Schmutzengel
Schokomandeln. Bis zu dem
Zeitpunkt hatte ich mir für das Mittagessen immer noch ein Vollkornbrötchen und etwas Obst mit ins Büro genommen, aber diese
Tradition wurde von den zart schmelzenden Verlockungen hinterrücks beendet. Der zweite Grund war die wenige Bewegung. Meine
Fußmärsche nahm ich ab sofort wieder auf, und seit meiner Kündigung hatte ich Süßes kaum mehr angesehen, geschweige denn gegessen.
Selbst die Nuss-Nougat-Creme hatte ich hauptsächlich gekauft, um Sue zu ärgern, die gegen Haselnüsse allergisch ist und davon
Ausschlag bekommt. Außerdem hatte ich wenig Zeit zum Essen und immer noch häufig genug Frust wegen Greg im Bett nebenan oder
Stress wegen endloser Formulare, was mirbeides mit absoluter Verlässlichkeit den Appetit verdirbt. Meine Kleidergröße hatte sich um zwei Größen verringert.
An eine »Besserung« des Stresslevels war nicht zu denken, denn die Formulare, die zur Beantragung auf Gewährung eines Existenzgründungszuschusses
zur Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit ausgefüllt werden mussten, waren nicht einmal die Spitze der Herausforderung.
Nein, es musste auch noch ein Businessplan einschließlich Investitions- und Umsatzplanung, Positionierung des Unternehmens
im bestehenden Marktgefüge, Kapitalbedarf und Finanzierungskonzept sowie eine Umsatz- und Rentabilitätsvorschau erstellt werden.
Davon abgesehen wusste ich, dass ich mindestens eine wirklich pfiffige Mitarbeiterin benötigte sowie einen guten Draht zu
einigen Handwerkern und Catering-Unternehmen, aber ich hatte bisher weder eine Idee, wo ich das Personal noch wie ich die
Kontakte herbeizaubern sollte. Und das Geld für die diversen Investitionen hatte ich auch nicht. Da war familiäre Hilfe gefragt.
Meine Familie ist in Ordnung. Ich habe einen älteren Bruder, der so viel älter ist, dass er mein Onkel sein könnte. Er ist
nett, aber wir haben uns nicht viel zu sagen. Meine Eltern hatten sich seinerzeit mit ihrem einzigen Sohn abgefunden, die
Kinderphase eigentlich als abgeschlossen betrachtet und sich auf ein ruhigeres Leben gefreut, als ich ungeplant in selbiges
trat. Vielleicht hat diese Tatsache unser Verhältnis nicht ganz so herzlich werden lassen, wie es in anderen Familien der
Fall ist, aber meine Oma entschädigte mich für alles. Meine Oma bewirtschaftete mit ihrem Mann einen Bauernhof, auf dem es
für mich immer etwas zu entdecken gab. Das Zentrum der Omawelt war die Küche, in der sie kochte, buk, Gemüse und Obst einweckte
und mir bei den Schulaufgaben half. Dort heulte ichwegen aufgestoßener Knie und wurde mit Pflastern und Trostpflästerchen versorgt. Dort heulte ich auch meinen ersten richtigen
Liebeskummer aus, der mich gegen Ende der vierten Grundschulklasse ereilte. Er dauerte etwa drei Tage und hinterließ, dank
Omas guter Pflege, keine bleibenden Schäden. In Omas Küche lernte ich die Sache mit den Blumen und den Bienen kennen und Oma
war es, die mir zu meinem fünfzehnten Geburtstag, an dem meine Mutter mir ein rosafarbenes Blümchenkleid mit Rüschen schenkte,
zu einem Termin beim Frauenarzt riet.
»Besser zu früh als zu spät«, sagte sie damals, und ich hatte eine blasse Ahnung, was sie damit meinte. Oma war sechzehn gewesen,
als sie mit meinem Vater schwanger wurde.
Den Termin nahmen wir gemeinsam wahr und die Tatsache, dass ihr Frauenarzt eine anzügliche Bemerkung über Omas frühe Schwangerschaft
und ihre wohlmeinende Vorsorge für die Enkelin machte, war ausschließlich mir peinlich. Oma und der Arzt kannten sich seit
vierzig Jahren und gingen sehr vertraut miteinander um.
Wie immer, wenn ich praktischen Rat und Hilfe brauchte, setzte ich also auch in meiner Existenzgründungsphase auf meine Oma.
Da Weihnachten vor der Tür stand, fuhr ich über die Feiertage sowieso zu ihr. Sie holte mich wie immer vom Zug ab und drückte
mich schon auf dem Bahnsteig so fest, dass ich kaum noch Luft bekam.
»Wir sind eine richtige WG über die Feiertage, du musst auf der Couch im Wohnzimmer schlafen«, eröffnete sie mir im Auto.
»Lisbeth wohnt zurzeit bei mir, auch wenn sie die meiste Zeit nicht da ist.«
Bevor ich nach Details fragen konnte, berichtete Oma bereits von ihrer letzten Reise, die sie nach Argentinien undChile geführt hatte. Ich bemühte mich, ihren Erzählungen zu folgen, bemerkte aber selbst, dass meine Gedanken immer wieder
abschweiften.
Omas Wohnung hatte sich seit meinem letzten Besuch im September
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