Schnee in Venedig
Mädchen sein?»
«Wenn sie eine Zeugin war, die Pellico in die Quere gekommen ist – warum hat er sie dann erwürgt und nicht erschossen?»
«Weil ein Derringer nur zwei Schüsse hat, Commissario.»
«Sie glauben, Pellico hat das Mädchen erst gesehen, als er seinen Derringer bereits leer gefeuert hatte?»
Pergen nickte. «Ich denke, so war es. Der Sturm, die schlechte Beleuchtung. Als er sie entdeckte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu erwürgen.»
«Das erklärt nicht die Misshandlungen.»
Pergen grinste, und Tron stellte fest, dass ihm der Oberst schlagartig unsympathisch wurde. «Männer schlagen in der Hitze des Gefechts bisweilen über die Stränge.»
«Die Bisse auf dem Oberkörper – nennen Sie das
über die Stränge schlagen
?»
«Wenn die Frau nicht damit einverstanden gewesen wäre, hätte sie um Hilfe geschrien.» Pergen machte ein gleichgültiges Gesicht.
«Hat sie wahrscheinlich auch», sagte Tron. «Aber in dem Sturm hat sie niemand gehört. Ich finde, wir sollten die Passagiere aus den Nachbarkabinen vernehmen. LeutnantGrillparzer und die Principessa di Montalcino. Wenn Sie einverstanden sind, könnte ich mit der Principessa …»
«Das wird nicht nötig sein, Commissario.» Pergen schien es auf einmal sehr eilig zu haben. «Wir haben den Täter, und wir haben ein Motiv. Außerdem ist dies kein Fall für die venezianische Polizei», setzte er noch hinzu. «Vergessen Sie das nicht.» Er lächelte, um die Wirkung dieser schroffen Warnung zu mildern. «Würden Sie hier bleiben, bis die Leichen abgeholt werden?»
Der Soldat salutierte, als Pergen den Salon verließ, und der Oberst erwiderte den Gruß durch ein leichtes Senken seines Kopfes. Tron hörte, wie seine Schritte auf den Decksplanken leiser wurden und sich entfernten.
Eine halbe Stunde später erschien nicht Dr. Lionardo, sondern ein Stabsarzt, dem Tron noch nie begegnet war. Vier Sanitäter trugen zwei schwarz lackierte Särge in die Kabine des Hofrats, und Tron stand daneben, als die beiden Leichen in die Särge gebettet wurden. Die Sanitäter arbeiteten schnell und behutsam, sie bezeugten den Toten einen sachlichen Respekt, der Tron angenehm berührte. Die Särge erinnerten ihn an Gondeln, und Tron dachte:
Sie könnten sie an ihr Boot hängen und an einer Schleppleine hinter sich herziehen, wie kleine Schiffchen.
Aber das taten sie nicht. Stattdessen luden sie die Särge auf eine zweiruderige Barke, die am Heck des Dampfers festgemacht hatte. Erst steuerte die Barke die Dogana an, dann wandte sie sich nach rechts in die Mündung des Canal Grande. Es hatte wieder angefangen zu schneien, und da es völlig windstill war, fielen die Flocken fast senkrecht vom Himmel.
9
Tron sah die Frau, als er vom Heck des Schiffes auf die Gangway zulief. Sie stand am Ende der Gangway und hatte bereits die rechte Hand auf die Reling der
Erzherzog Sigmund
gelegt. Mit der linken hielt sie einen Schirm über ihren Kopf, um den Schnee abzuwehren, und sie blickte sich unschlüssig um. Einen Moment lang (während sein Herz anfing, wie verrückt zu hämmern) dachte Tron, seine Phantasie hätte ihm einen Streich gespielt, aber als er näher kam, sah er, dass sie es tatsächlich war.
Die Principessa di Montalcino trug einen schlichten, streng auf Taille gearbeiteten Wollmantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte und an den Ärmeln und am Kragen von einer breiten Pelzborte gesäumt war. Trotz des Schirms über ihrem Kopf trafen einzelne Schneeflocken ihr Gesicht. Eine Schneeflocke landete auf der Oberlippe der Principessa, von wo ihre Zunge sie entfernte.
Himmel, wurden andere Männer auch so weich in den Knien, wenn die Principessa ihre Achataugen auf sie richtete? Tron hatte völlig vergessen, wie grün ihre Augen und wie makellos ihr Teint waren – eine Makellosigkeit, die durch ein paar kokette Sommersprossen an ihrer Nasenwurzel noch betont wurde. Ihr Haar war nachlässig hochgesteckt, als hätte sie lediglich die Absicht gehabt, kurz vor die Tür zu treten. Sogar im matten Licht dieses Februartages leuchtete es wie von einer unsichtbaren Lichtquelle bestrahlt.
Tron lächelte, als er vor der Principessa zu stehen kam. Er hoffte, dass sie sein Lächeln erwidern würde, aber sie musterte ihn nur ungeduldig und sagte in ihrem makellosen Toskanisch: «Ich vermisse einen Ring, Commissario. Wahrscheinlich habe ich ihn heute Nacht in meiner Kabine verloren.»
Sie hatte
Commissario
gesagt – wenigstens erinnerte sie sich an ihn.
Die
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