Schnee in Venedig
zehn.»
«Hatten Sie den Eindruck, dass sich die Herren kannten?»
«Auf jeden Fall. Die Herren haben sich ja gestritten.»
«
Gestritten?
Signor Moosbrugger hat mir nichts von einem Streit erzählt.»
«Signor Moosbrugger war nicht die ganze Zeit im Restaurant. Er hat es kurz vor dem Ende der Öffnungszeit verlassen.»
«Ist er lange weg gewesen?»
Putz überlegte kurz. «Vielleicht fünf Minuten, und länger hat der Streit auch nicht gedauert. Dann ist der Leutnant aufgestanden und gegangen.»
«Und der Hofrat?»
«Hat bezahlt und ist ebenfalls gegangen. Er hat auch die Rechnung für den Leutnant beglichen. Das war Punkt ein Uhr. Ich habe zufällig auf die Uhr gesehen.» Putz deutete auf die runde Wanduhr, die über dem Buffet hing. «Kurz danach kam Signor Moosbrugger zurück, und wir haben angefangen, die Tische abzuräumen.»
«Der Hofrat war ein Stammgast auf diesem Schiff», sagte Tron. «Wäre es möglich, dass Stammgäste sich gewisse Freiheiten herausnehmen, die von der Besatzung stillschweigend geduldet werden?» Schnell fügte er hinzu: «Ich glaube nicht, dass jemand Schaden nimmt, wenn allein reisende Passagiere die Überfahrt in Gesellschaft verbringen.» Er lächelte, um deutlich zu machen, dass er nicht zu den bigotten Sittenwächtern zählte, aber Putz erwiderte sein Lächeln nicht. Stattdessen sagte er: «Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Commissario.»
Zum ersten Mal während ihres Gespräches blickte Putz auf, und Tron stellte fest, dass Putz’ Iris fast die gleiche Farbe hatte wie seine Pupille, ein kaltes Dunkelbraun, eingeschlossen in einen graubraunen Kreis. Zugleich sah er, dass Putz Angst hatte und dass Putz wollte, dass er diese Angst sah. Putz öffnete den Mund, seine Lippen bewegten sich, aber bevor er etwas sagen konnte, brach er ab und drehte sich um.
Oberst Pergen stand so plötzlich im Raum, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht. Der Oberst hatte seine Zeit nicht damit verschwendet, anzuklopfen oder an der Tür stehen zu bleiben, sondern eilte mit schnellen Schritten auf den Tisch zu, an dem Tron mit Putz saß. Tron stellte sich unwillkürlich vor, wie der Oberst die letzte halbe Stunde unentwegt in Bewegung gewesen sein musste – von dem Moment an, da ihn die Nachricht von den Ereignissen auf der
Erzherzog Sigmund
erreicht hatte, bis zu dem Moment, an dem er, ein wenig außer Atem, vor Trons Tisch zum Stillstand kam.
«Ich habe es eben erst erfahren», sagte Pergen, ohne sich die Mühe zu machen, Tron zu begrüßen. «Der Hofrat sollte eigentlich erst morgen ankommen. Mit der
Prinzessin Gisela
.» Ohne Pause fragte er: «Wo sind die Leichen?»
«Noch in der Kabine. Dr. Lionardo ist benachrichtigt worden», sagte Tron.
Vielleicht empfand Oberst Pergen sein grußloses Eindringen als unhöflich, vielleicht dachte er auch an seine Begegnung mit der Contessa Tron – jedenfalls lächelte er auf einmal. Das Lächeln kam völlig unerwartet und enthüllte die andere Seite Pergens: Der Oberst war ein hoch gewachsener Mann, der Tron um einen Kopf überragte und mit seinem gepflegten Schnurrbart und dem gut geschnittenen Gesicht das Musterbild eines kaiserlichen Offiziers abgab. Wie bei kaiserlichen Offizieren üblich, hatte der Oberst seinen weißen Offiziersmantel nicht übergezogen, sondern nur lässig über die Schultern gehängt. Kein Wunder, dachte Tron, dass die Contessa von Oberst Pergen beeindruckt war.
«Was ist das hier?» Pergen hatte die Passagierliste auf dem Tisch entdeckt.
«Die Passagierliste, Herr Oberst.»
«Gestatten Sie?» Pergen zupfte seine Handschuhe aushellgrauem Wildleder von den Fingern und nahm den Bogen in die Hand. Sein Blick wanderte die Reihe der Namen auf und ab. Schließlich blieb er an einem Namen hängen, und Tron sah, wie sich seine Brauen zusammenzogen. Dann nickte der Oberst grimmig. «Sie können gehen», sagte er zu Putz, ohne ihn anzusehen. Er wandte sich an Tron, die Augen immer noch auf die säuberlichen Spalten von Moosbruggers Passagierliste gerichtet. «Sagt Ihnen der Name Pellico etwas, Commissario?»
«Nein.» Tron sah ihn fragend an.
«Pellico leitet das Waisenhaus auf der Giudecca, das
Istituto delle Zitelle
», sagte Pergen. «Aber das ist nicht seine einzige Beschäftigung.» Er machte eine Pause, bevor er weitersprach. «Der Hofrat hatte etwas in seiner Kabine, das Pellico um jeden Preis an sich bringen musste.»
«Würden Sie mir verraten, worum es geht?», fragte Tron, der kein Wort verstand.
Pergens
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