Schneegestöber (German Edition)
führte. Sie hatte die blonden Locken aufgesteckt und trug die Tamworth-Saphire. Das Blau der Steine spiegelte sich in ihren Augen und unterstrich die Makellosigkeit ihres blütenweißen Teints.
»Du hast dich also verliebt«, stellte Mary Ann sachlich fest, als er dieser seine erfreulichen Zukunftsperspektiven darlegte. Der Hausherr nahm wie jeden Morgen das Frühstück mit Mr. Finch in seinem Zimmer ein. Familie Aldwin war noch nicht heruntergekommen.
Der Earl seufzte: »Jetzt fängst du schon wieder damit an«, wies er sie zurecht, und es klang leicht ungehalten: »Ich dachte, wir hätten das Thema bereits zur Genüge besprochen. Liebe hat nichts mit Heirat zu tun, Mary Ann, kannst du denn das nicht begreifen? Ich suche keine Liebe, ich suche eine Frau.«
»Und was wird aus Silvie Westbourne?«
»Du sagtest doch gestern selbst, das Holzpferd sei mir weggaloppiert.«
Mary Ann mußte wider Willen lachen: »Ich sagte keineswegs etwas derart Drastisches. Obwohl der Vergleich gar nicht so unpassend ist.«
Er grinste zurück: »Na siehst du. Ich habe deine Lektion gelernt. Und ich habe mich nach einer neuen Braut umgesehen.«
»Ist es denn so wichtig, daß du dich verheiratest?« erkundigte sie sich ein wenig außer Atem.
St. James nickte: »Sehr wichtig«, sagte er ernst. »Ich bin zweiunddreißig. All meine Verwandten, meine liebe Schwester Jane eingeschlossen, liegen mir in den Ohren, ich solle mich standesgemäß verehelichen. Sie schleppen alle möglichen und unmöglichen jungen Damen an, um sie mir zu präsentieren. Das wird mir auf die Dauer zu anstrengend.«
Mary Ann erwog diesen Einwand, konnte ihm aber nicht recht Glauben schenken: »Ich kann mir nicht denken, daß Lady Farnerby wirklich der Grund ist, daß du an eine Heirat denkst. Sicher findest du Mittel und Wege, dir diese Dame auch anders vom Leib zu halten.«
St. James sah Mary Ann staunend an: »Lady Farnerby?« wiederholte er ungläubig. »Du weißt, daß Lady Farnerby meine Schwester ist?«
»Deine Halbschwester«, stellte Mary Ann richtig, erfreut, daß sie ihn wieder einmal beeindrucken konnte.
»Einmal möchte ich dahinterkommen, woher du all dein Wissen hast. Das ist ja geradezu beängstigend.«
Mary Ann lächelte betont liebevoll: »Findest du? Na, dann möchte ich dich nicht enttäuschen: Ich glaube, ich kenne den Grund, warum du an eine rasche Heirat denkst: Du brauchst einen Erben. Du bist der letzte männliche Vertreter deiner Familie. Wenn du kinderlos stirbst, fallen sowohl dein Titel als auch dein Vermögen an die Krone zurück.«
Der Earl nickte: »So ist es. Aber nun laß uns ein unverfänglicheres Thema anschlagen. Ich höre Mrs. Aldwins energische Schritte. Ich möchte nicht, daß sie mein Vorhaben jetzt schon durchschaut.«
Es war am späten Nachmittag, als es Kitty endlich gelang, sich aus der Küche zu schleichen. Mrs. Bobington hatte sie gebeten, ihr beim Zubereiten der Kekse für das nahe Weihnachtsfest zu helfen. Da diese Bitte mehr wie ein Befehl geklungen hatte, war Kitty nichts anderes übriggeblieben, als am rohen Küchentisch Platz zu nehmen, auf dem die Köchin eine große Schüssel feinster Mandeln bereitgestellt hatte. Diese waren über dem Feuer kurz aufgekocht worden, und es war nun Kittys Aufgabe, die Schale von den Kernen zu entfernen. Eine eintönige Tätigkeit, fürwahr. Und doch war Kitty, wie Mrs. Bobington ebenso treffend wie beißend bemerkte, für anspruchsvollere Küchenarbeiten nicht geeignet. Als die Kekse endlich in den Ofen geschoben wurden und Mrs. Bobington sich entfernte, um eine Flasche Rum aus dem Keller zu holen, da nützte Kitty die Gelegenheit, sich davonzuschleichen.
Sie schnappte eines der Staubtücher und erklärte Molly, der Spülmagd,daß sie in die Schlafzimmer zu gehen beabsichtigte, um dort für Ordnung zu sorgen. Bevor Mrs. Bobington zurückkam, eilte sie rasch die Treppe in das Erdgeschoß empor, über den langen dunklen Gang, der für die Dienerschaft bestimmt war, in den westlichen Flügel des Hauses. Eine schmale Treppe führte zum ersten Stock, und Kitty öffnete neugierig die große weiße Flügeltür: Vor ihr erstreckte sich im fahlen Licht der untergehenden Sonne der Ballsaal. Mit staunenden Augen blickte sie sich um. Sie war noch nie in einem Raum von derartigen Ausmaßen gewesen. Es schien ihr, als könnten sich hier Hunderte Paare im Walzertakt drehen. Und doch war sie sicherlich die einzige, die seit Jahren hier heraufgekommen war. Eine dicke schwere
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