Schneegestöber (German Edition)
»Und vielen Dank für den reizenden Abend.«
Mary Ann beeilte sich, in ihr Zimmer zu kommen. Sie fühlte sich plötzlich befangen, ihr Herz schlug wie wild, ihre Wangen glühten. Er hatte sie geküßt! Der Earl of St. James hatte sie auf die Wange geküßt! Er spielt seine Rolle als Bruder perfekt, sagte ihre innere Stimme. Warum bloß gefiel ihr dieser Gedanke nicht?
Der Earl sah gedankenverloren auf die dunkle Tür, die sich hinter Mary Ann geschlossen hatte. Was hatte ihn nur veranlaßt, sie zu küssen? Er wußte es selbst nicht. Es mochte wohl an der seltsamen Stimmung liegen, die in diesem Gemäuer herrschte. Unentschlossen sah er sich in dem dunklen Gang um. Seine Kerze spendete nur wenig Licht. Er konnte nicht sehen, wie es am hinteren Ende des Gangesaussah. Kein Laut war zu vernehmen. Es war erst zehn Uhr, und er war noch nicht müde, Uni diese Uhrzeit begann in der Hauptstadt der Abend erst richtig. Doch hier, in dieser verlassenen Gegend, ging er bereits zu Ende. Es war kalt und unwirtlich hier in diesem Treppenhaus. Je schneller er Silvie fand, desto früher würde er von hier wegkommen. Es war wirklich seltsam, daß der alte Viscount Mary Anns eindringliche Fragen einfach ignoriert hatte. Sollte das bedeuten, daß Silvie bereits im Hause war? Vielleicht schlief sie irgendwo ganz in seiner Nähe, und er wußte es nicht. Hielt sie sich absichtlich vor den Gästen versteckt? Oder hatte sie ihn etwa erkannt, als er heute am späten Nachmittag hier ankam? Es war wohl besser, er ging doch zu Bett und überschlief die Angelegenheit.
Er war bereits auf dem Weg zu seiner Zimmertür, als er es sich doch wieder anders überlegte. Es konnte nicht schaden, wenn er sich ein bißchen umsah. Der Hausherr, der verschrobene Geistliche, die gesamte Dienerschaft hatten sich zur Ruhe begeben. Niemand würde ihn auf seinem Erkundungsgang stören. Sein Gefühl sagte ihm, daß er Silvie im Haupttrakt des Gebäudes finden würde, wenn er sie überhaupt hier fand. Sie hätte sich nicht gut in den Nebentrakten aufhalten können, ohne daß Kerzenschein aus einem der Fenster aufmerksamen Besuchern aufgefallen wäre. Wer sagte ihm denn, daß sie nicht oben in dem Stockwerk schlief, in dem die Dienstboten untergebracht waren? Dort konnte sie, vor allen neugierigen Augen geschützt, unbemerkt Licht anzünden, ohne daß sie Verdacht erregt hätte. Auf Zehenspitzen schlich er zur Treppe zurück. Jedesmal zuckte er verärgert zusammen, wenn eine Diele unter seinen Füßen laut knarrend nachgab. Dann blieb er stehen und blickte sich um. Kein Laut war zu hören, kein Lichtschein unter den Zimmertüren zu sehen. Er schien tatsächlich der einzige zu sein, der in dieser Nacht noch wach war. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, um möglichst wenig Lärm zu erzeugen, erklomm er die steile Treppe. Dann bog er in den Gang ein, der zu den Kammern der Dienstboten führte. Hier war alles enger als im ersten Geschoß. Die Türen lagen knapp beieinander, die Wände waren schmucklos, keine Teppiche wärmten den kahlen Bretterboden. Der Earl seufzte unwillig. Sein Vorhaben war völlig aussichtslos. An welcher der vielen Türen sollte er denn sein Glück probieren? Erkonnte doch nicht jede einzelne von ihnen öffnen, um zu sehen, ob Silvie in einem der Betten schlief. Was war, wenn er einen der Dienstboten aufweckte und dieser ihn bemerkte? Das würde einen schönen Aufruhr geben. Und doch, er hatte diese ergebnislose Suche ein für allemal satt. Silvie mußte doch zu finden sein. Entschlossen schüttelte er die mutlosen Gedanken ab und drückte die erste Klinke hinunter. Ganz vorsichtig öffnete er die Türe einen Spaltbreit. Erschrocken zuckte er zurück. Was war das? Spürte er einen kalten Windhauch in seinem Rücken? Er wollte sich eben umdrehen, um zu sehen, woher die Kälte kam, da legte sich eine kräftige Hand um seinen Hals. Eine andere verschloß mit grobem Griff seinen Mund. Erschrocken gab er einen erstickten Laut von sich. »Wenn du schreist«, hörte er eine drohende Männerstimme direkt an seinem Ohr, »dann brech ich dir das Genick!« Dann wurde er unsanft in einen kalten, schlecht gelüfteten Raum gestoßen.
XVI.
»Wage ja nicht, um Hilfe zu rufen!« befahl ihm sein Angreifer ein weiteres Mal. »Denn dann drücke ich zu. Hast du mich verstanden?«
Seine Lordschaft wehrte sich nach Leibeskräften. Er wollte nicht zulassen, daß der andere stärker war als er. Er wollte sich nicht den Willen seines Widersachers aufzwingen lassen.
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