Schneegestöber (German Edition)
und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Es ist bereits acht Uhr vorbei, Miss Kitty. Ich habe Ihnen kaltes Wasser gebracht, weil Sie ja den Hausbrauch noch nicht kennen. Nachher zeige ich Ihnen den Brunnen, wo Sie sich morgen selbst das Wasser holen können.« Während Kitty nicht gerade erfreut ihren Dank murmelte und fröstelnd ihren Fuß unter der Decke hervorstreckte, wandte sich Betty zum Gehen: »Frank kommt nachher herauf und heizt ein. Sobald er mit den übrigen Zimmern im Haus fertig ist. Das ist wirklich ein nobler Herr, unser Lord. Läßt uns nicht frieren, wie das in anderen Häusern so üblich ist.«
Nachdem sich Betty zurückgezogen hatte, stellte Kitty vorsichtig einen Fuß auf den Boden und zuckte zusammen. Der Fußboden war eiskalt. Das Feuer im Kamin war längst erloschen. Eisblumen an den Fensterscheiben ließen nicht erkennen, ob es wieder zu schneien begonnen hatte. Mit Todesverachtung wusch sie sich Hände und Gesicht im eiskalten Wasser. Hoffentlich fanden sie diese Miss Westbourne heute noch. Es wurde Zeit, daß sie wieder in ein wärmeres Haus zurückkehrte. Das Dienerspielen machte auch keinen so großen Spaß, wie sie angenommen hatte. Gestern abend hatte sie sich der Hausarbeit nur dadurch entziehen können, daß sie vorgab, Mary Ann würde sie brauchen. Sie war dann den ganzen Abend in Mary Anns Zimmer gesessen und hatte auf ihre Freundin gewartet. Viel Gepäck, das sie hätte auspacken können, gab es ja nicht. Sie hatte festgestellt, daß Mrs. Bobington sowohl die Rolle der Haushälterin als auch die der Köchin ausfüllte. Sie war eine äußerst energische Dame, und das gesamte Personal, außer vielleicht Mr. Shedwell, der würdige Butler, schien sich vor ihr zu fürchten. Kitty hatte beschlossen, sich weder von den bissigen Worten noch von den strafenden Blicken der Haushälterin einschüchtern zu lassen. Das nahm ihr diese offensichtlich übel. Ebensosehr wie den Umstand, daß sie den Abend nicht mit der übrigen Dienerschaft verbringen wollte. Kitty seufzte. Wahrscheinlich war es taktisch nicht klug, sich vor niederen Arbeiten zu drücken. Zum einen hatte sie das Abendessen versäumt, was sich jetzt an ihrem knurrenden Magen nur zu deutlich bemerkbarmachte. Zum anderen wollte sie ja den Umgang mit der Dienerschaft nützen, um diese nach dem Verbleib von Miss Westbourne auszuhorchen. Also mußte sie sich mit dem übrigen Personal gutstellen. Während sie aus dem Nachthemd schlüpfte, beschloß sie, sich in Zukunft klüger zu verhalten. Rasch zog sie ihr einfachstes Kleid über. Es war dunkelgrün. Das Leibchen war mit kleinen Knöpfen geschlossen. Leichte Puffärmel wurden um die Handgelenke zugeknöpft. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. In diesem schlichten Kleid sah sie wirklich wie eine Dienerin aus.
Diese Ansicht wurde von Mrs. Bobington nicht geteilt. Als Kitty eine Viertelstunde später, die Haare zu einem züchtigen Knoten aufgesteckt, in die Küche hinunterkam, warf ihr die Köchin einen strengen Blick zu: »Da bist du ja endlich, Miss. Wir haben uns schon gefragt, wo du steckst.« Sie musterte Kitty kritisch von Kopf bis zu den Zehen und schüttelte dann mißbilligend ihren grauen Lockenkopf, auf dem eine adrette weiße Haube thronte: »Ich hab noch nie eine Dienerin gesehen, die so aussieht wie du, meiner Seel. Man könnte dich ja glatt für eine Lady halten.«
Das laute Lachen, das vom rohen Küchentisch her erschallte, ließ Kitty herumfahren. Dort saßen Frank und Al und schlürften einträchtig Porridge, das die Köchin kurz vorher heiß und dampfend vor sie hingestellt hatte.
»Kitty und ne Lady!« rief Al aus und klopfte sich vor Vergnügen auf die Schenkel. »So was Komisches hat die Welt noch nicht gehört. Nein, nein, liebe Mrs. Bobington. Wenn Sie erst Bekanntschaft mit ihrem frechen Mundwerk gemacht haben, dann halten Sie sie nie und nimmer für eine Lady. Ist’s nicht so, meine Süße?«
Diese gutgelaunte Rede wurde in dem ärgsten Yorkshire-Dialekt geäußert, so daß die anderen Anwesenden Schwierigkeiten hatten, ihn überhaupt zu verstehen. In ihrem Innersten wußte Kitty, daß sie Al dankbar sein mußte. Er hatte die peinliche Situation perfekt gemeistert, und sollte die Köchin wirklich einen Verdacht gehabt haben, so war dieser zerstreut. Doch er hatte sie auch »seine Süße« genannt, und das konnte sie keinesfalls unbestraft hinnehmen: »Du sei ganz still, Al Brown!« fuhr sie ihn an. »Dich hat keiner nach deiner Meinung
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