Schneeköniginnen
verließ das Gebäude, nicht sehr
enttäuscht, sie hatte nur vage mit der Möglichkeit gerechnet, ihn noch hier zu
finden.
Einem plötzlichen Bedürfnis folgend,
ließ sie sich auf einem Treppenabsatz nieder, vorher wie ein Tier nach allen
Seiten witternd, und fischte ein Zellophantütchen aus ihrer Tasche. Weißes Zeug
bröselte auf ihren Taschenspiegel, sie saugte es durch eine gerollte Dollarnote
gierig in ihre Nase. Aaah, die erste Prise eines Tages war doch jedesmal wieder
göttlich.
Es gab ein kurzes Hirngewitter, dann
fühlte sie sich frisch und leicht. Sie glitt nun schwerelos etliche Blocks
zurück und blieb in der Ludlow Street stehen. Die meisten Nachkommen der
Bewohner dieser Turn-of-the-Century-Gebäude lebten jetzt in Brooklyn und hatten
Latinos, Chinesen und weiß der Teufel wem noch alles Platz gemacht.
Doch ein paar waren noch immer hier.
Katie blieb vor einem der Häuser stehen. Es war schmal, der rote Anstrich hätte
eine Erneuerung vertragen, die Feuerleitern waren rostig, und mit der
Bausubstanz stand es nicht mehr zum Besten. Immerhin lag kein Müll vor der Tür,
und Grünzeug rankte in den Fenstern hinter den Spitzengardinen. Ein proper
gekleidetes kleines Mädchen saß ein paar Meter entfernt im Staub und spielte
mit einem verdorrten Regenwurm. Katie beachtete sie nicht, ging zur Tür des
roten Hauses und klingelte. Eine sehr alte Frau mit einer schneeweißen Perücke
auf dem eingeschnurrten Kopf öffnete. Aus der Tür drang der Geruch von Zimt,
Anis und Kardamom. Stimmt, erinnerte sich Katie, morgen ist ja Samstag —
Sabbat! Dafür bäckt sie also immer noch ihre Babkes und kocht Tscholent, wie
eine Verrückte.
»Ja, bitte?« Die Stimme klang wie die
einer Kettenraucherin, obwohl diese Frau garantiert noch nie in ihrem langen
Leben geraucht hatte. Ihre kleinen Äuglein musterten Katie mißtrauisch.
»Frau Kirsch! Guten Tag. Erkennen Sie
mich? Ich bin Katie. Katie Shannahan, die Freundin von Lis.«
Ein Ruck ging durch die schmächtige
Gestalt. »Nennen Sie diesen Namen nie wieder«, fauchte sie die kratzige Stimme
an. »Diese Person existiert nicht mehr.«
Katie war baff. Mit so einem Empfang
war wirklich nicht zu rechnen gewesen. »Aber was ist denn...«
»Ich erkenne dich«, flüsterte die Alte
jetzt und trat einen Schritt auf Katie zu, die eingeschüchtert zurückwich. »Ja,
ich kenne dich. Du bist auch eine von denen...«
»Hören Sie, Frau Kirsch, bitte! Ich
suche nur Lis, die Tochter Ihrer Tochter. Ich brauche bloß ihre Adresse. Dann
gehe ich gleich wieder, wirklich, ich bitte Sie...«
»Schlecht seid ihr, alle miteinander!
Schlecht und sündig!« kreischte sie, jetzt völlig außer sich. »Verschwinde von
meinem Haus, ich kenne niemanden dieses Namens!«
Katie flüchtete verwirrt und von jiddischen
Unfreundlichkeiten begleitet. Wieso in aller Welt rastete die Alte dermaßen
aus, bei der bloßen Erwähnung ihrer eigenen Enkelin? Sicher, die alte Kirsch
war immer schon ein wenig seltsam gewesen, mit ihren strengen, orthodoxen
Gebräuchen und ihrer komischen Perücke, die sie ununterbrochen trug. Aber
gleichzeitig war sie immer die Gastfreundschaft in Person gewesen. Sie hatte
Lis doch sehr geliebt. War sie inzwischen meschugge geworden?
Katie trat hinaus auf die Straße und
überlegte ihren nächsten Schritt. Was nun? Lis war ihr einziger Anlaufpunkt in
dieser Stadt, ihre einzige Freundin von früher. Sie waren zusammen zur Junior
High School gegangen und auch noch Freundinnen geblieben, als Katie nicht mehr
regelmäßig kam und die Familie Shannahan immer mehr ins soziale Abseits
schlitterte. Ihr Vater hatte seinen Job beim Elektrizitätswerk verloren, von
heute auf morgen. Er konnte ganz gewiß nichts dafür. Bei einer
Rationalisierungsmaßnahme der Gesellschaft fehlten ihm einfach ein paar
Dienstjahre...
Katie wurde aus ihren Gedanken
aufgescheucht. Das kleine Mädchen von vorhin schlenderte lässig auf sie zu.
»He«, sagte sie mit rotzfrechem
Gesicht, »ich weiß, wer du bist.« Katie sah sie forschend an. »So? Und wer bist
du?«
»Ich bin Sarah.« Sarah. Lis’ kleine
Schwester, vor fünf Jahren noch fast ein Kleinkind. Sie mochte jetzt etwa zehn
oder elf sein.
»Sarah! Du erinnerst dich an mich?«
»Klar doch, du bist ziemlich oft bei
uns gewesen.«
»Sarah, wo ist Lis?«
»Wohnt jetzt woanders. Im Village.«
»Wo sind deine Eltern?«
»Wir wohnen auch nicht mehr hier,
sondern drüben, auf Coney Island.« Kindlicher Stolz schwang in ihrer Stimme.
Katie war
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