Schneeköniginnen
Für einen flüchtigen Moment
mußte sie an jenen dummen Streit mit Katie über die »Verhältnismäßigkeit der
Mittel« denken.
Patricia verließ das Zimmer. Durch ein
schmales Fenster konnte Anne ein Stück rosaverblassenden Abendhimmel sehen.
Katie, Stefan und Gordon sprachen
wenig, als sie durch die frühmorgendlich ruhigen Straßen glitten. Gordon fuhr.
Sie erreichten die von Patricia exakt beschriebene Stelle, einen übersichtlichen,
ungeteerten Platz vor dem verschlossenen Gittertor eines Schrottplatzes in der
Nähe des Hafens. Noch war hier niemand zu sehen. Gordon parkte den Wagen, so
daß sie den Gitterzaun im Rücken hatten. Dann warteten sie. Rostige Container
und alte Paletten standen herum, irgendwo kläffte ein Hund.
Katie umklammerte eine unauffällige
braune Einkaufstüte. »Keine Sorge, ich mach’ das schon«, murmelte sie, mehr zu
sich selbst, als zu den anderen. »Ich hab’ sie da reingeritten, also hole ich
sie auch wieder aus der Scheiße raus.«
Sie kamen von der anderen Seite, Punkt
sechs, wie verabredet. Jeff saß am Steuer seines alten Buicks, einem echten
Klassiker, neben ihm Anne, hinten Patricia. Sie hielten in etwa fünfzig Meter
Entfernung an. Katie stieg aus und blieb neben dem Wagen stehen. Ebenso Pat.
Jeff zog es vor, im Auto zu bleiben und Anne eine Pistole an den Kopf zu
halten.
»Hast du das Zeug dabei? Ich will es
sehen«, rief Patricia.
»Dann komm her!« sagte Katie.
Patricia zögerte. »Denk dran, wenn mir
was geschieht, ist sie sofort dran!« Sie deutete auf Anne. Jeff fuchtelte mit
der Pistole herum.
»Ist schon klar.«
Patricia kam auf sie zu. Als sie noch
zwei Schritte entfernt war, befahl Katie: »Halt! Ich lege es jetzt auf die
Motorhaube. Dann kannst du eine Probe haben.«
Pat nickte. Ihre rechte Hand ruhte an
einem Pistolengriff, der aus ihrer Jeans hervorlugte. Katie kippte den Inhalt
der braunen Tüte auf die Haube, lauter kleine Zellophantütchen, die blütenweiß
und unschuldig in der Sonne leuchteten. Katie zählte sie laut ab.
Patricias Augen bekamen einen seifigen
Schimmer, aber sonst ließ sie sich nichts anmerken. »Jetzt will ich probieren.«
Sie machte einen Schritt auf den Wagen zu.
»Du rührst das Zeug nicht an, bevor
Anne hier ist«, sagte Katie ruhig und entschlossen. »Sag mir, welche Tüte ich
nehmen soll, und du kriegst sie.« Pat überlegte einen Moment, ob sie darauf
eingehen sollte, aber eigentlich klang die Sache korrekt.
»Okay.«
Katie ließ ihren Finger über den
Päckchen kreisen und Patricia rief: »Stop!«
»Die hier?« Katie zeigte auf eines.
»Nein, das daneben, nein... ja, das!«
Katie zog das Päckchen unter Patricias
Adleraugen heraus, dann vollführte sie eine neckische, kreisende Handbewegung
und warf es ihr zu.
»Voilà«, meinte sie nonchalant, als
wäre das alles nur ein Spiel.
»Laß den Scheiß«, maulte Patricia und
fing die Tüte auf.
Stefan beobachtete die Vorgänge genau.
Bis jetzt nahm alles einen normalen Verlauf, wie ihm schien, falls man unter
diesen Umständen überhaupt von normal sprechen konnte. Gordon sah ebenfalls
gebannt auf die beiden, und ihm wurde vor Schreck ganz schlecht. Aber er sagte
nichts. Katies Revolver lag gut in seiner Hand.
Patricia ging mit der Probe zu ihrem
Wagen zurück und rieb sich das Zahnfleisch ein. Jeff ebenso. Der Rest lag noch
immer unangetastet auf der Haube. Katie hing abwartend hinter der offenen
Wagentür. Ein paar Minuten verstrichen.
»Taub wie eine Nuß«, sagte Patricia
schließlich zufrieden nickend zu Jeff, und dann rief sie Katie zu: »Scheint in
Ordnung zu sein.«
Es gab eine zähe Verhandlung zwischen
Katie und Patricia über den Modus der Übergabe von Stoff und Geisel.
Schließlich einigten sie sich, und was folgte, wirkte wie ein schlecht
einstudierter Eiertanz: Katie packte unter Jeffs und Patricias Argusaugen die Päckchen
in die Tüte, stellte diese in die Mitte, zwischen die beiden Autos, und lief
zurück zu ihrem Wagen. Dann gingen Patricia und Anne los. Anne bewegte sich
mechanisch, wie ferngesteuert, auf den Ford zu. Schweißperlen standen ihr auf
der Stirn. Patricias Hand hing nervös an ihrem Gürtel. In der Mitte angekommen,
schnappte sie sich die Tüte und stakste rückwärts mit gezogener Waffe zu Jeffs
Auto. Gordon hielt jetzt den Revolver warnend in Patricias Richtung, Jeff war
sich im unklaren, wohin er überhaupt zielen sollte.
Anne konnte nicht schneller gehen. Sie
rechnete jeden Augenblick damit, einen Schuß zu hören.
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