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Schneemond (German Edition)

Schneemond (German Edition)

Titel: Schneemond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kohlpaintner
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Körper noch verblieben war, griff er nach der Hand der Frau. Und als er ihre Hand umfasste, spürte er, wie sich ihre blutigen Finger in die seinen verschränkten. Und als sie, so vereint, den letzten Schritt aus dem Leben hinaus taten, zerbarst ihre Welt in einer gewaltigen Explosion.
    Als Samuel Moore das Krankenhaus durch den Nebeneingang betrat, war er noch immer in Gedanken versunken. Er hatte sich die Bänder mit der Aufzeichnung des Gespräches zwischen ihm und John Ukowa immer wieder angehört. Etwas war darin verborgen, doch er konnte es nicht greifen und das machte ihn wahnsinnig. Vor allem dieser eine Satz ging ihm nicht aus dem Kopf.
    »Ich fürchte mich nicht vor dem Leben und ich fürchte mich nicht vor dem Tod, aber ich fürchte mich vor dem, was
dazwischen
ist.«
    Was hatte der alte Indianer damit gemeint? Was ist zwischen Leben und Tod? Ein Mensch konnte doch nur lebendig oder tot sein? Hatte er vielleicht einen todesähnlichen Zustand gemeint, wie ein Koma? Moore spann diesen Gedanken weiter. Ihm fielen dazu Schauermärchen ein, die unter den Menschen immer wieder verbreitet wurden, auch dann noch, wenn längst der wissenschaftliche Beweis erbracht worden war, dass an diesen Dingen nichts Wahres dran war. Solche Geschichten waren oft nicht tot zu kriegen. Ihm fiel beispielsweise ein, dass sich manche Leute in ihre Särge Glocken oder Klingel einbauen ließen, da sie panische Angst vor Tetanus hatten. Sie fürchteten, durch die Körperstarre, die das letzte Stadium dieser Infektion darstellt, vorzeitig für tot erklärt und deshalb lebendig begraben zu werden.
    Moore verwarf diesen Gedanken wieder. Er konnte sich nicht vorstellen, das Ukowa auf solche Ängste angespielt hatte.
    Ich bin ein Schamane meines Volkes
.
    Nein, Ukowa hatte etwas anderes gemeint, ganz sicher.
    Ich fürchte mich vor dem, was dazwischen liegt
.
    Was liegt zwischen Leben und Tod, das ein Schamane, ein Medizinmann fürchten kann? Was liegt überhaupt zwischen Leben und Tod? Was kommt nach dem Leben und vor dem Tod? Was steht am Ende des Lebens? Am Ende des Lebens steht das
Sterben
.
    Plötzlich stand es Moore klar vor Augen. Zwischen Leben und Tod liegt das Sterben, der
Übergang
. Aber was fürchtete Ukowa an diesem Übergang so sehr? Die Schmerzen? Nein, dieser Mann hatte nicht so ausgesehen, als wennihm Schmerzen das fürchten lehren könnten. Ganz im Gegenteil. Er war fest davon überzeugt, dass die Leidensfähigkeit des Alten weit über dem Durchschnitt gelegen hatte. Außerdem hätte er wohl kaum einen so gewalttätigen Freitod gewählt, wenn er die Schmerzen gefürchtet hätte.
    Aber was war es dann? Die Angst vor Verlust oder dem Unausweichlichen? Auch das, konnte sich Moore nicht vorstellen. Er hatte selten einen Menschen getroffen, der wie Ukowa den Eindruck gemacht hatte, sein langes Leben in Hinblick auf den Tod, so umsichtig und sorgfältig geordnet zu haben. Oder war es vielleicht die Gefahr, dass ihm während dieses Überganges etwas zustoßen konnte?
    Dieser Gedanke brachte etwas in Moore zum klingen. Was verändert sich beim Sterben? Er dachte nach und plötzlich tauchte ein Bild vor ihm auf und er begann zu verstehen. Natürlich. Beim Sterben schwand die Kraft des Lebens und die Kraft der
anderen Seite
war noch nicht vorhanden. Es ging um die Unversehrtheit der Seele.
    Das musste es sein. Den alten Mann hatte die Angst umgetrieben, dass seiner Seele beim Übergang vom Leben zum Tod etwas zustoßen könnte. Doch das warf die nächste Frage auf. Was konnte der Seele beim Sterben geschehen? Was geschah überhaupt mit der Seele beim Sterben? Und wer oder was könnte ihr Schaden zufügen?
    Moore schüttelte den Kopf.
    Er befand sich jetzt ohne Zweifel auf einem Terrain, das er nicht beherrschte. Zumindest jedoch war er sich sicher, die Ängste von Ukowa jetzt besser zu verstehen. Und das war vielleicht der Schlüssel, um seinen Mördern – oder besser gesagt, denjenigen, die ihn in den Tod getrieben hatten – auf die Schliche zu kommen. Was er jetzt brauchte, war Torrens, um mit ihm die Sache durchzugehen. Er war gerade am Empfang vorbeigegangen und bemerkte, immer noch halb in Gedanken, dass der Platz des Pförtners nicht besetzt war. Er stutzte kurz, zuckte dann jedoch nur die Schultern und ging weiter zum Aufzug. Als er gerade auf den Rufknopf drückte, öffnete sich die Türe zum Treppenhaus und ein großer, breitschultriger Kerl, mit einer auffälligen Narbe im Gesicht und ein schmieriger, hagerer Typ mit

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