Schneemond (German Edition)
immer darauf lauernd, dass seine Verteidigung eine Schwäche bot, die ihm einen Angriff ermöglichen würde. Pater Stefan war sich dieser Einstellung von Lukas durchaus bewusst, doch er ließ sich nicht davon einschüchtern und sprach, in ehrlichem Vertrauen auf die Unerschütterlichkeit seines Glaubens, weiter.
»Es ist unsere Entscheidung, Kriege zuzulassen, Kriegstreiber zu unterstützen oder selbst in den Krieg zu ziehen. Es ist auch die Entscheidung jedes Einzelnen, sich dem Bösen zuzuwenden und sich vorbehaltlos seinen Trieben hinzugeben und es ist die Entscheidung von Menschen, dort zusiedeln, wo die Gefahr von Naturkatastrophen größer ist als anderswo.«
Er hielt kurz inne.
»Und es war auch Ihre Entscheidung, Herr Seger, sich hinter das Steuer ihres Fahrzeuges zu setzen, unter welchen Umständen auch immer.«
Lukas wollte aufbegehren. Pater Stefan jedoch beugte sich vor und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
»Bitte lassen Sie mich ausreden, Herr Seger.«
Er zog die Hand zurück.
»All diese Entscheidung werden getroffen und haben oft Konsequenzen, die uns dann schrecklich und grausam erscheinen. Doch es gibt auch andere Entscheidungen. Junge Menschen entscheiden sich in Kriegszeiten gegen die Herrschenden Stellung zu beziehen und lieber in den Tod zu gehen, als wortlos zuzusehen, wie Andern Unrecht geschieht. Menschen entscheiden sich, hinzusehen und einzuschreiten, wenn Kindern Leid zugefügt wird und alle Anderen wegsehen. Und Menschen, die in der Naturkatastrophe alles verloren haben, entscheiden sich, Anderen, ohne Ansehen von Status und Herkunft hilfreich die Hand zu reichen und mit Ihnen auch noch die letzten Reste ihre Habseligkeiten zu teilen. Es ist nun mal eine bemerkenswerte Tatsache, dass im Schatten von großem Leid und Schmerz die größten Tugenden des Menschen blühen.«
Pater Stefan hielt Lukas mit seinem Blick fest und versicherte sich seiner Aufmerksamkeit, bevor er weitersprach.
»Und eines muss Ihnen immer klar sein, Herr Seger. Ihre Frau und Ihre Tochter haben sich dafür entschieden
mit
Ihnen in dieses Auto zu steigen. Ich habe Ihre Familie leider nicht gekannt, doch ich bin mir sicher, dass diese Entscheidung auch Ausdruck ihrer Liebe und ihres Vertrauens zu Ihnen war.«
Lukas spürte den Knoten tief in seinem Hals und kämpfte wieder mit den Tränen.
»Und ich habe dieses Vertrauen enttäuscht. Wollen Sie das damit sagen?«
Pater Stefan schüttelte den Kopf.
»Nein, das will ich nicht damit sagen. Ich will Ihnen sagen, dass wir in einer wundervollen und gefährlichen Welt leben, in der jede Entscheidung tausend Möglichkeiten, aber auch tausend Risiken birgt. Nichts ist vorherbestimmt und Gott wird uns nicht an der Hand nehmen und uns schadlos durch alle Gefahren führen. Wir sind selbst für unser Leben verantwortlich. Er hat uns die Freiheit der Entscheidung gegeben....«
»Ach, und er sitzt, mit einer Flasche Bier, daneben und sieht gespannt zu, wie weit wir in diesem, mit tödlichen Fallen gespickten, Labyrinth kommen?«, warf Lukas bissig ein.
Der Priester musste bei dieser Vorstellung grinsen.
»Nein, Herr Seger, bestimmt nicht. Er hat uns genügend Maßstäbe und Hilfen für unsere Entscheidungen an die Hand gegeben. Werte, ein Gewissen, unseren Verstand, Einsicht und – Liebe. Und sie dürfen eines nicht übersehen, jedes Leben ist vom ersten Atemzug an mit dem Tod verknüpft. Und der Tod ist nicht eine kalte Grausamkeit, sondern der natürliche und notwendige Abschluss unseres Erdenlebens. Der Zeitpunkt, an dem unsere Seele, die Essenz unseres Seins, von seinen irdischen Fesseln befreit wird.«
Lukas schüttelte verbissen den Kopf, immer noch nicht bereit, sich einzugestehen, dass der Pater Recht hatte.
»Und trotzdem ist meine Familie einen sinnlosen Tod gestorben. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was ich in den vergangenen Jahren durchgemacht habe?«
»Woher wollen Sie das wissen?«, hielt ihm Pater Stefan entgegen. »Wann ist ein Tod sinnvoll und wann nicht? Was wäre wohl gewesen, wenn Ihre Frau und Ihre Tochter überlebt hätten, jedoch geistig oder körperlich schwerst behindert? Wie hätte dann Ihr Leben ausgesehen?«
Vor seinem geistigen Auge sah Lukas Eva im Rollstuhl sitzen. Sie, die immer so gerne geritten und geschwommen war. Angewiesen auf die Hilfe Anderer, bei jeder kleinen Tätigkeit. Er stellte sich Sara vor, ihres scharfen, spritzigen Verstandes beraubt und keinen mehr erkennend – und es schüttelte ihn bei diesen
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