Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Zukunft zu sprechen. Zwei Tage später ist es dann soweit. Beim Abendessen, bei Kerzenschein. Er hat sich Tintenfisch bestellt, sie Krebse, sie sitzen in Sichtweite des Meeres.
Auf so eine Gelegenheit hat er gewartet! Ja, und die Tentakeln eines in Weißwein erwärmten Tintenfischs, den man vorher vielleicht hätte zerkleinern sollen, baumeln von seiner Gabel. Man hat auch in den schönsten Situationen des Lebens nicht alles im Griff.
»Ich weiß nicht, Juliet, wann der richtige Moment ist für so was, aber …« Es geht nicht mit langer Vorrede, es geht nur mit einem Ruck. »Ich möchte gerne noch ein, eigentlich sogarzwei Kinder haben, und … ich wollt dich fragen, ob du … ob wir …«
Er hört auf zu sprechen. Es waren nicht die Worte, die er sich vorgestellt hatte, aber es war klar genug.
Juliet sieht ihn an. »Du möchtest, dass wir Kinder haben. Eins oder besser zwei.«
»Und was sagst du dazu?«
Er findet, dass ihr Mund ziemlich schmal ist, aber das muss nichts bedeuten. Dann schüttelt sie den Kopf.
»Nein, Roland.«
Juliet fängt an zu reden, betont sofort, wie gerne, gerade mit ihm und … berichtet ihm dann von dem Angebot ihres Verlags, von den inneren Widersprüchen, die sie durchlitten hat. Er hört ihr zu. Nickt verständig, versteht alles. Allerdings guckt er ihr nicht in die Augen dabei. Er bewegt sich auch nicht, während Juliet ihm alles erklärt. Und so hängt der Tintenfisch noch immer von seiner Gabel und pendelt leicht hin und her. Natürlich ist er inzwischen kalt geworden.
Ende November
In Fleurville ist der Alltag wieder eingekehrt. Conrey verfolgt eine vielversprechende Spur wegen einiger Autohehler und Grenier ist für zwei Tage weg. Ohayon hat inzwischen den ausführlichsten und umständlichsten Abschlussbericht verfasst, den es je gegeben hat. Auf dem Weg zur Staatsanwältin zwickt ihn allerdings ein unangenehmes Gefühl. Wenn er den Bericht jetzt abgibt, ist der Fall abgeschlossen. Noch mal anzufangen wird dann schwierig. Und eigentlich ist es Rolands Aufgabe, das zu tun. Ohayon bleibt stehen. Bin ich jetzt der Chef oder nicht?
Er ist der Chef, er hat das Recht, auch die Pflicht, zu entscheiden, wann er der Staatsanwaltschaft den Abschlussbericht aushändigt.
Ohayon gewöhnt sich übrigens in vielerlei Hinsicht an seine neue Rolle. Er wundert sich nur ein bisschen darüber, wie schnell die anderen ihn akzeptiert haben. Vor allem bei Conrey hat er mit mehr Widerstand gerechnet. Jetzt redet Conrey mit ihm genauso wie vorher mit dem Kommissar.
Vielleicht liegt es daran. An seinem neuen Selbstbewusstsein. Ohayon hat nämlich auf einmal eine Frau. Und es ist so einfach gewesen! Am Fischstand hatten sie sich kennengelernt, er und Frau Behling aus der Asservatenkammer. Natürlich, sie gefällt ihm schon lange. Nur wäre das normalerweise wieder darauf hinausgelaufen, dass ihm ständig schlecht geworden wäre und er den Fischstand irgendwann gemieden hätte. Er hätte sich damit begnügt, sich vorzustellen, wie er in der Rolle des Kommissars aus der amerikanischenKrimiserie groß auftritt, und vielleicht hätte bei diesen Träumereien auch Frau Behling eine Rolle gespielt. Jetzt ist Ohayon kein amerikanischer Kommissar mehr, er ist der Chef des Kommissariats von Fleurville. Er trägt auch nicht mehr seine knappen Blousons. Er hat sich einen Mantel zugelegt und friert weniger. Vielleicht lag es an seinem neuen Selbstbewusstsein. Oder es lag doch an Frau Behling. Es war nämlich Frau Behling, die den ersten Schritt gemacht hat.
»Wir stehen hier immer am Fischstand in der Kälte … Ich könnte ja mal was kochen.«
Und nachdem Frau Behling ihm also den kleinen Finger gereicht hatte, nahm Ohayon gleich die ganze Hand und dann alles. Und so war doch einiges geschehen in der letzten Zeit.
Dann wird Geneviève beerdigt. Ohayon geht hin. Genevièves Mutter wird von zwei älteren Damen gestützt. Ohayon spricht ihr sein Beileid aus und redet eine Weile mit ihr. Für Genevièves Mutter ist es so noch am leichtesten zu ertragen: Ihre Tochter hat einen Unfall gehabt und ist keinem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Sie bedankt sich bei Ohayon, und der hat ein komisches Gefühl dabei. Kann aber nicht sagen, warum.
Und noch eine Kleinigkeit ist vielleicht interessant. Bei Sergeant Ohayon ist etwas hängen geblieben. Seit er mit Kristina über Genevièves Bilder gesprochen hat. Das Bild, das Geneviève am Feldrand gemalt hat, steht ihm noch ganz klar vor Augen. Er stellt sich vor, wie
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