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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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geglaubt, der Himmel wird lila. War natürlich nur Einbildung. Obwohl Conrey auch meinte, dass da was war.«
    Roland Colbert greift in die Tasche seines Mantels, holt die Wollmütze raus. »Hier, setz die auf.«
    »Warum?«
    »Dass dein Kopf warm bleibt.« Roland Colbert stapft Richtung Haus.
    »Muss ich echt warten, bis der Medizinmann kommt?«
    »Setz die Mütze auf!«
    Ohayon setzt die Mütze auf. Er weiß noch nicht, wie tief sich das Bild des Mädchens, dass unter dem Schnee verschwindet, in seinem Bewusstsein verankert hat. Er weiß auch noch nicht, dass er später, viel später, noch einmal hierher kommen wird. Mit diesem Bild im Kopf. Und er wird einen guten Grund haben, das zu tun.

    Das erste Bild ist kein Bild, sondern die Zeichnung eines Kindes. Man sieht zwei Mädchen, die sich an den Händen halten. Neben den beiden Kindern stehen zwei Erwachsene. Eine Frau und ein Mann, ganz in Schwarz. Der Mann hat kein Gesicht. Hinter dieser Gruppe wirbelt ein Delfin durch die Luft. Hinter dem Delfin ein kleines Gebirge und dahinter ein langer Hals, darauf ein Kopf mit kleinen Hörnern. Vermutlich eine Giraffe.
    Als Geneviève das Bild malte, war sie acht Jahre alt. Sie war zusammen mit ihren Eltern und Kristina im Zoo gewesen. Und der Moment, als die Giraffe hinter der künstlichen Felswand auftauchte, war so besonders, dass sie sicher war, ihn nie zu vergessen. Es war nämlich ganz viel gleichzeitig in ihrem Kopf passiert. Zuerst hatte sie sich kurz erschrocken, dann war ihr ein lustiger Einfall gekommen. Sie hatte sich nämlich vorgestellt, dass die Giraffe das absichtlich tat. Hinter dem Gebirge aufzutauchen, genau in dem Moment, als der Delfin sprang. Vielleicht langweilten sich die Tiere im Zoo, und die Springerei von dem Delfin war das einzig Interessante, was die Giraffe den lieben langen Tag erlebte. Auf der Rückfahrt nach Fleurville hatte Geneviève dann gemerkt, dass sie anfing, das Bild zu vergessen. Mit einigen Details war sie sich nämlich schon gar nicht mehr sicher. Also war sie zu Hause sofort auf ihr Zimmer gegangen und hatte angefangen, das Bild aus der Erinnerung zu malen. Dabei war ihr etwas Merkwürdiges aufgefallen. Das Besondere waren gar nicht die Giraffe und der Delfin, sondern die Stimmung. Es war kalt gewesen im Zoo, und obwohl es erst 16 Uhr war,war die Sonne schon fast untergegangen. Und so war eben diese besondere Stimmung entstanden.
    Nachdem das Bild fertig war, schrieb sie den Titel hinten drauf.
Ein ganz besonderer Moment
. Dann hängte sie das Bild über ihrem Bett auf. Und da hingen schon einige.

    Ohayon wundert sich, wie schnell es geht. Von Genevièves Kopf ist schon fast nichts mehr zu sehen. Nur ein Büschel Haare ragt noch aus dem Schnee heraus. Ohayon starrt die Haare an und Roland Colbert zählt. Hundertzehn Schritte. Zum Haus sind es also nur siebzig Meter. Bevor er anklopft, dreht er sich noch einmal um. Er sieht Ohayon, der im Schnee steht. Es ist wirklich nicht weit.
    Er klopft an. Conrey öffnet die Tür. »Roland! Gut, dass du da bist.«
    »Ist was mit dir?«
    »Das ist die Enkeltochter von René. Hab kurz ihr Gesicht gesehen, als Grenier sie untersucht hat.«
    »Ja, die ist das.«
    »Wann wird sie weggebracht?«
    »Sobald der Medizinmann da war.«
    »Dass sie da so liegen muss.«
    »Beruhig dich, Conrey. Wir finden raus, wer es war. Mehr geht jetzt nicht mehr. Wo ist Madame Darlan? … Conrey! Ich möchte Madame befragen.«
    Conrey reißt sich zusammen. »Madame ist betrunken. Sie redet darüber, dass sie lieber Deutsch spricht als Französisch. Außerdem hat sie eben was von Kleist zitiert. Das ist ein deutscher Schriftsteller, sagt sie.«
    »Ich weiß, wer Kleist ist.«
    »Dann wird sie mit dir ja vielleicht Französisch reden. Seit sie mit dem Zitieren fertig ist, redet sie nicht mehr so viel.«
    »Ich werde allein mit ihr sprechen. Komm, lass mich durch.« Roland Colbert schiebt Conrey zur Seite. »Du kannst Ohayon Gesellschaft leisten.«
    Conrey verlässt also das Haus und stapft in Roland Colberts Spur auf Ohayon zu.

    Grenier ist fertig mit ihrer Arbeit am Parkplatz. Sie weiß jetzt, dass sie richtig gelegen hat. Dass der Parkplatz wichtiger war als das tote Mädchen. Wichtiger, wenn man die Zeit in Betracht zieht. Und Schnee ist Zeit. Schnee kann nützlich sein, wenn man sich auf seine Arbeit versteht. Marie Grenier rollt ihr Maßband ein und verstaut es zusammen mit Notizblock und Stift im Rucksack. Sie blickt zum Himmel. Lässt sich die Schneeflocken ins

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