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Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)

Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)

Titel: Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Roth
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diese Familie!« Das Sauerstoffgerät neben Kaspar Oliviers Sessel fauchte, als der ehemalige Strafverteidiger ein kurzes, freudloses Lachen ausstieß.
    Er litt an Gallengangskrebs im Endstadium, wie Winnie vorab in Erfahrung gebracht hatte, Metastasen in Lunge und nahezu allen wichtigen Organen des Bauchraums inklusive. Verschiedene Chemotherapien hatten ihm Kopfhaar, Augenbrauen und Wimpern geraubt, doch sein massiger Körper schien trotz aller Torturen nicht nennenswert an Gewicht eingebüßt zu haben. Im Gegenteil. Der ehemalige Strafverteidiger wirkte unter der dünnen Polyesterdecke, die die Schwestern ihm gnädig über Bauch und Beine gebreitet hatten, wie eine nackte, fette Kröte.
    »Mit den Dramen, die sich in diesem Haushalt abspielten, hätten Sie die Nation mühelos zwei Jahre und länger tagtäglich unterhalten können«, fuhr er fort, und sein Husten klang beinahe wütend. Er war schwerkrank, aber noch längst nicht bereit, die Segel zu streichen, das war Kaspar Olivier eindeutig anzumerken. »Die Eltern hatten ’ne Villa, oben am Aukamm. Ein Riesenkabachel, so groß, dass Sie sich glatt drin verlaufen konnten.« Oliviers wimpernlose Lider senkten sich, während er zurückdachte. »Na, wie auch immer, wir sind in die Gegend gezogen, als ich neun oder zehn war. Keine Ahnung, wann genau. Ich kam in Marios Grundschulklasse, und ein Jahr später gingen wir zusammen aufs Gymnasium.«
    »Und wie war Mario Belting so?«, fragte Winnie, die mit Interesse zuhörte, auch wenn sie noch kein Wort über die Zeit verloren hatten, die für sie und ihre Ermittlungen interessant war. »Haben Sie sich gut verstanden?«
    Olivier lachte. »Er schrieb meine Hausaufgaben ab, und als Dankeschön durfte ich mich von Zeit zu Zeit bei ihm zu Hause volllaufen lassen oder ein paar Runden in diesem blöden Pool drehen.« Seine fleischige Hand tastete nach den Schläuchen, die im Dunkel seiner Nasenlöcher verschwanden. »Das Zeug ist lästig wie ’n Pickel am Arsch«, scherzte er, als er Winnies Blick bemerkte. »Aber es hält mich am Leben.«
    Winnie lächelte. Es hatte sie überrascht, dass Olivier sich überhaupt dazu bereitgefunden hatte, mit ihr zu sprechen. Schließlich hatte er, weiß Gott, einen Haufen guter Gründe, mit denen er sich unbequemen Besuch hätte vom Leib halten können. Trotzdem hatte er zugestimmt. Mehr noch: Sie hatte fast das Gefühl, dass er froh war über ihr Kommen. Ihr Blick suchte das Fenster des großen, aber nicht ungemütlichen Krankenzimmers, hinter dem der kleine, aber geschmackvoll angelegte Garten des Hospizes in winterliche Tristesse gehüllt war. Ja, dachte sie, vielleicht ist er ganz einfach froh, mal wieder einen Menschen zu sehen, der keinen weißen Kittel trägt …
    Olivier hatte keine Kinder, wie sie wusste.
    »Nicht mal ’ne Exfrau«, hatte Werneuchen gescherzt, und somit traf, zumindest was das anging, auf den ehemaligen Star-Verteidiger dasselbe zu wie auf Mario Belting. Aber gab es auch noch andere Gemeinsamkeiten? Hatten der fette, kranke Mann im Sessel und der smarte Oberstaatsanwalt vielleicht gar ein Geheimnis geteilt?
    Winnie betrachtete Oliviers gelblich verfärbtes Gesicht, dem die Strapazen der zurückliegenden Therapien deutlich anzusehen waren, und fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn man dem Tod ins Auge sah und sich keine Menschenseele um einen kümmerte. Und wofür, oder besser gesagt: für wen Kaspar Olivier so vehement kämpfte. Für sich selbst? Nur für sich? Der Gedanke erschien ihr einigermaßen absurd. Trotzdem schien es in diesem Fall genau so zu sein.
    »Ein Jahr vor dem Abi zogen meine Eltern mit mir nach Stuttgart«, fuhr Olivier fort. »Da haben wir uns dann aus den Augen verloren, Mario und ich. Aber ich könnte jetzt nicht behaupten, dass mich das sonderlich geschmerzt hätte. Denn befreundet oder so was in der Richtung waren wir ja, wie gesagt, sowieso nicht.«
    »Da habe ich aber was anderes gehört«, ließ Winnie sich zu einer kühnen Lüge hinreißen, weil sie sehen wollte, wie er darauf reagierte.
    Sie rechnete fest damit, dass er fragen würde, wer dergleichen über ihn zu behaupten wage. Doch Olivier tat nichts dergleichen. Stattdessen zuckte er nur mit den Schultern. Vorsichtig, als ob ihm selbst diese unbedeutende kleine Geste Schmerzen verursachte.
    »Ach, wissen Sie«, knurrte er, »Freundschaft ist ein großes Wort. Und nach meiner Erfahrung auch überaus selten, selbst wenn alle Welt Sie heutzutage das Gegenteil glauben machen

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