Schneetreiben: Ein Fall für Heller und Verhoeven (German Edition)
gewesen war. Aber sie hatte keine Erklärung gefunden, mit der sie eine solche Aktion hätte rechtfertigen können. Und das Letzte, was sie brauchen konnte, war, dass man sie hier sofort mit Argusaugen beobachtete. Genau genommen reichte ihr schon die Aufmerksamkeit, mit der Keela hinter ihr her war.
Sie lehnte ihren schmerzenden Rücken gegen die Wand des Aufzugs und schloss einen Moment die Augen. Was für ein Tag!
Als sie im Erdgeschoss aus dem Lift stieg, registrierte Winnie das verlockende Aroma von frischen Waffeln, das aus der Cafeteria herüberwehte und die pompöse Eingangshalle mit heimeliger Gemütlichkeit erfüllte. Sie blieb einen Augenblick stehen und dachte über das Altwerden und seine Folgen nach. Sicher, sie selbst war mit ihren achtundzwanzig Jahren noch weit davon entfernt, und sie hatte auch keine Großeltern mehr, anhand derer sie sich eine Meinung hätte bilden können. Und doch hatte sie das Gefühl, dass Elisabeth Fersten recht hatte. Dass das Altwerden eine Herausforderung war. Ein Abenteuer.
Bei dieser Gelegenheit fiel ihr ein, was in der Hektik des Arbeitstages auf der Strecke geblieben war: Sie hatte sich noch immer nicht den Tatort angesehen. Halt! Stopp! Du denkst schon genau wie Hinnrichs, korrigierte sie sich im Stillen. Noch wissen wir nicht, ob es überhaupt ein Tatort ist.
Ilse hat Termine vergessen,
widersprach Elisabeth Fersten.
Aber wenn eine Ampel rot war, blieb sie stehen …
Winnie seufzte und wandte sich nach links, dorthin, wo eine breite Steintreppe nach oben führte. Ursprünglich, das konnte man noch erkennen, hatte es überhaupt kein Treppenhaus im klassischen Sinn gegeben, sondern nur diese imposante Treppe, die infolge des Umbaus ebenso wie das Haus selbst kurzerhand nach oben hin aufgestockt worden war. Werneuchens knapper Info-Mail, die sie am Morgen in ihrem Postfach gefunden hatte, war zu entnehmen, dass die Villa ursprünglich einem schöngeistigen jüdischen Industriellen gehört hatte. Nathan Silbersteins Kuvertfabrik hatte in den Zwanzigern Jahr für Jahr Millionen umgesetzt, bevor die Familie von den Nazis enteignet worden und über Großbritannien in die USA emigriert war. Keiner von ihnen war je nach Deutschland zurückgekehrt, nicht einmal für einen Besuch.
Während der Nazizeit hatte die Immobilie irgendeiner staatlichen Einrichtung gehört, nach Kriegsende wurde sie vom jüngsten Spross einer einflussreichen Metzgerdynastie erworben. Doch die Prozesse rund um die Entschädigung der Opfer hatten sich über Jahrzehnte hingezogen, und irgendwann hatte der Käufer über all dem Hickhack das Interesse an seinem Besitz verloren, sodass die – mittlerweile verfallene – Villa vor neun Jahren schließlich unter den Hammer gekommen und von einer europaweit agierenden Betreiberkette luxuriöser Senioren- und Pflegeeinrichtungen gekauft worden war.
Am Fuß der Treppe blieb Winnie stehen. Während der gesamte Eingangsbereich der Residenz nach dem Umbau mit hochwertigem Marmor gefliest worden war, lag in diesem Teil des Hauses noch das alte Parkett, das den wohligen Duft von Bohnerwachs und altem Staub ausatmete. Hoch über ihrem Kopf lief das Geländer, über das Ilse Brilon geklettert war, zickzackartig bis hinauf zum nagelneuen kuppelartigen Dach, durch dessen großzügige Glaseinsätze das letzte Licht des Tages zu ihr herabfiel.
Ich sehe wirklich keinen Grund, warum Ilse über das Geländer geklettert sein sollte,
meldete sich wieder Elisabeth Ferstens Stimme zu Wort, während die Treppenfluchten unter Winnies Blick zu einer indifferenten dunklen Masse verschwammen
. Ebenso wenig, wie ich einen Grund dafür sehen würde, dass sie sich vor ein Auto wirft …
Aber wenn Ilse Brilon nicht aus eigenem Antrieb gesprungen war, bedeutete dies zwingend, dass jemand sie gestoßen hatte. Nur hatte nichts auch nur im Mindesten darauf hingedeutet, dass sie körperlich bedrängt oder gar genötigt worden war.
Kurz vorher kam sie zu mir und sagte, dass sie sich vor der Gestapo fürchte,
widersprach ihr Keela.
Winnie stutzte, als sich unvermittelt eine andere Stimme in ihr Bewusstsein drängte. Eine Stimme, die sie so gut kannte, dass sie sie selbst auf dem völlig überfüllten Markusplatz jederzeit ausgemacht hätte.
Aber …
Das konnte nicht sein! Sie musste sich irren! Oder doch nicht?
Sie reckte den Hals und entdeckte tatsächlich ihre Mutter, die an der Information neben dem Eingang stand und mit der diensthabenden Pförtnerin sprach. Und just in diesem
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