Schneewittchen-Party
Möglichkeiten ab – und das, mein Lieber, nennt sich dann Diagnose. Man überstürzt dabei nichts und vergewissert sich erst.«
»Kannten Sie das Kind?«
»Natürlich. Sie war eine meiner Patientinnen. Joyce war ein völlig gesundes Kind. Hatte die üblichen Kinderkrankheiten. Aß zu viel und redete zu viel. Das Zuvielreden hat ihr weiter nicht geschadet. Vom zu vielen Essen bekam sie manchmal Magenbeschwerden. Sie hat Mumps gehabt und Windpocken. Sonst nichts.«
»Aber einmal hat sie vielleicht doch zu viel geredet.«
»Ach, das ist Ihre Masche? Hab schon davon gehört.«
»Das könnte doch ein Motiv, ein Grund gewesen sein.«
»O ja. Geb ich zu. Aber es gibt auch andere Gründe. Geistesgestört scheint heutzutage die richtige Antwort zu sein. Jedenfalls ist es bei den Gerichten so. Ihr Tod hat niemand etwas eingebracht, niemand hat sie gehasst. Aber mir scheint, dass man bei Kindermorden nicht dort nach dem Grund zu suchen braucht. Der sitzt ganz woanders, nämlich im Mörder selbst.«
»Und wer käme Ihrer Meinung nach in diesem Fall infrage?«
»Sie meinen von denen, die neulich auf dem Fest waren?«
»Ja.«
»Der Mörder musste anwesend sein, sonst hätte es keinen Mord gegeben. Stimmt’s? Er war also einer von den Gästen oder den Helfern, oder er ist mit vorsätzlichen bösen Absichten durch ein Fenster eingestiegen. Dieser Kerl, der Joyce ermordet hat, kommt wahrscheinlich aus einem guten Elternhaus, sieht nett aus und hat gute Manieren. Niemand würde auch nur im Traum drauf kommen, dass was nicht in Ordnung mit ihm sei. Haben Sie schon mal in einen schönen roten, saftigen Apfel gebissen, und innen drin richtet sich plötzlich etwas ziemlich Ekelhaftes auf und wackelt mit dem Kopf? Bei vielen Menschen ist es ähnlich. Öfter als früher, würde ich sagen.«
»Immerhin, Sie geben zu, dass es jemand gewesen sein muss, der bei dem Kinderfest war. Einen Mord ohne Mörder gibt es nicht.«
»O doch, in manchen Kriminalromanen ohne Weiteres. Ihre Schriftstellerfreundin schreibt wahrscheinlich solche Bücher. Aber in diesem Fall stimme ich Ihnen zu. Der Mörder muss dort gewesen sein. Ich war übrigens auch da«, sagte er. »Kam später dazu, wollte nur mal sehen, wie es ist.«
Er nickte nachdrücklich.
»Ja, das ist das Problem, nicht wahr? Wie in der Zeitung bei den Gesellschaftsnachrichten: ›Unter den Anwesenden war auch – ein Mörder.‹«
10
P oirot betrachtete beifällig das Schulhaus.
Er wurde hereingelassen und sofort von einer Sekretärin ins Direktorinnenzimmer gebracht. Miss Emlyn erhob sich von ihrem Schreibtisch, um ihn zu begrüßen.
»Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Monsieur Poirot. Ich habe von Ihnen gehört.«
»Sehr freundlich«, sagte Poirot.
»Von einer alten Freundin, Miss Bulstrode. Früher Direktorin von Meadowbank. Sie erinnern sich vielleicht an Miss Bulstrode?«
»Sie ist jemand, den man kaum vergessen kann. Eine starke Persönlichkeit.«
»Ja«, sagte Miss Emlyn. »Sie hat aus Meadowbank die Schule gemacht, die sie heute ist.« Sie seufzte kurz und sagte: »Heute hat sich da natürlich manches geändert. Andere Ziele, andere Methoden, aber es ist trotzdem noch immer die alte fortschrittliche und trotzdem traditionsreiche Schule. Nun ja, man darf nicht zu sehr in der Vergangenheit leben. Sie sind zweifellos wegen der Ermordung von Joyce Reynolds zu mir gekommen. Ich weiß nicht, ob Sie an diesem Fall ein spezielles Interesse haben. Ich könnte mir vorstellen, dass er etwas außerhalb Ihres Bereichs liegt. Sie haben sie persönlich gekannt, oder vielleicht ihre Familie?«
»Nein«, sagte Poirot. »Ich bin auf Bitten einer alten Freundin, Mrs Ariadne Oliver, hierhergekommen. Sie war hier auf Besuch und bei dem Kinderfest anwesend.«
»Das macht es sehr viel einfacher, den ganzen Fall zu besprechen«, sagte Miss Emlyn. »Solange keine persönlichen Gefühle im Spiel sind, kann man sehr direkt sein. Es ist eine entsetzliche Sache, und, wenn ich so sagen darf, eine ganz unwahrscheinliche. Die Kinder sind alle nicht mehr klein oder noch nicht groß genug, um den Fall in eine bestimmte Kategorie einzureihen. Alles scheint auf ein psychologisches Verbrechen hinzudeuten, meinen Sie nicht auch?«
»Nein«, sagte Poirot. »Ich glaube, es war ein Mord, der, wie die meisten Morde, aus einem Motiv heraus begangen worden ist, möglicherweise aus einem sehr niedrigen.«
»So. Und der Grund?«
»Der Grund war eine Bemerkung, die Joyce gemacht hat. Nicht beim
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