Schneewittchens Tod
herausgefunden, wer der Perverse war, der … Elilou gestohlen hat«, fuhr Andrieu fort und rollte seine Havanna zwischen den Fingern.
»In diesem Fall kennt der Betreffende Sie«, gab Chib zu bedenken.
Andrieu legte die Zigarre auf den niedrigen Tisch mit den Intarsienarbeiten und rieb sich die Augen.
»Was für ein Chaos«, seufzte er. »Was für ein verdammtes, unsinniges, beschissenes Chaos!«
Chib schwieg und trank einen Schluck Cognac.
»Ah, da bist du ja, mein Lieber!«
Belle-Mamie trat näher, mit vorwurfsvollem Blick auf die halb geleerten Gläser.
»Wir hätten gerne deine Meinung zu der Gala für die afghanischen Flüchtlinge.«
»Ich komme in zehn Minuten.«
»Nun, es ist etwas eilig, Dubois ist am Telefon und …«
»Zehn Minuten.« »Was soll eigentlich diese ganze Geheimniskrämerei! Dauernd steckt ihr die Köpfe zusammen. Was verbergt ihr vor mir? Sagen Sie es mir, Monsieur Moreno, was ist hier los?«
»Wir setzen unsere Nachforschungen fort, um herauszufinden, wer die Leiche Ihrer Enkelin gestohlen und die Kapelle geschändet hat, Madame.«
»Was für ein Unfug! Man hätte die Polizei einschalten müssen, das habe ich hundert Mal gesagt, aber Jean-Hugues macht ja, was er will - oder was Blanche will«, fügte sie bösartig hinzu.
»Und außerdem, wozu das Ganze? Wozu sich um den unwürdigen Akt irgendeines Irren kümmern! Solch einen Schmerz kann man nur im Alltag überwinden.«
»Ich muss es wissen«, beharrte Andrieu und leerte sein Glas unter dem unwilligen Blick seiner Mutter. »Denn es raubt mir den Schlaf.«
»Du solltest lieber die Tabletten nehmen, die Cordier dir gegeben hat.«
»Mich mit Medikamenten voll stopfen? So ein Vorschlag deinerseits wundert mich!«, entgegnete er und griff nach der Flasche.
»Hör auf zu trinken! Glaubst du, das wäre ein gutes Vorbild für deine Söhne?«
»Meine Söhne …«, murmelte Andrieu, »was weißt du schon von meinen Söhnen?«
Belle-Mamie setzte ihre Brille auf, neigte den Kopf leicht auf die Seite und sah ihn prüfend an.
»Jean-Hugues, du machst mir Sorgen. Ich denke ernsthaft, dass .«
»Es ist mir scheißegal, was du denkst!«, brüllte Andrieu und goss den Cognac über Band IX von Racines gesammelten Werken.
Belle-Mamie starrte ihn mit offenem Mund an. Andrieu ging mit großen Schritten zur Tür und knallte sie hinter sich zu, ohne seine verblüffte Mutter eines Blickes zu würdigen.
»Aber …«, stammelte sie, »aber … Er hat mir den Cognac ins Gesicht geschüttet!«
»Nicht wirklich, er hat ihn nur in die Luft geschüttet«, glaubte Chib Moreno, der anerkannte Schlichter bei Familienstreitigkeiten, bemerken zu müssen.
»Haben Sie gesehen, er hat sich nicht mehr unter Kontrolle?! Und das noch dazu vor .«
Sie verstummte und biss sich auf die Lippe. Noch dazu vor einem Angestellten, vervollständigte Chib lautlos ihren Satz.
»Und Blanche, die . Also wissen Sie . «, fuhr sie fort und rieb sich nervös die Hände. »Ich muss mit Dubois sprechen«, schloss sie und eilte davon.
Als Chib allein war, schloss er die Augen und lehnte sich zurück. Nur ein paar Minuten Entspannung. Ruhe. Ruhe, befahl er all denen, die unter seiner Schädeldecke brüllten, all den Antworten, die laut wurden und schmerzhaft an seine Schläfen prallten wie ein Bumerang. Nur ein paar Sekunden. Als würde all das nicht existieren. Als würde Blanche nicht existieren. Als wäre er nie in ihr weißes Fleisch eingedrungen.
»Bunny ist weg!«
Erschöpft öffnete er die Augen. Eunice stand auf der Schwelle und biss in einen kleinen blauen Plüschdelphin. Sie hatte geweint.
»Hast du deinen Bunny verloren?«, erkundigte sich Chib, dem das völlig gleichgültig war, mit freundlicher Stimme.
»Nein, e'ist weg. E' hat mich nicht meh' lieb!«
Also gut.
»Warum hat er dich nicht mehr lieb?«
»Weil ich böse bin!« »Hat er dir das gesagt?«
»Ja!«
»Und warum bist du böse?«
Und warum musste immer jemand im ungeeignetsten Moment auftauchen und einem die Ohren voll heulen?
»Weil ich es nicht machen will! Also bin ich böse«, versicherte sie ihm.
»Was machen?«
Sie gab keine Antwort, und plötzlich hatte er den irritierenden Eindruck, dass sie ihm einen lasziven Blick zuwarf. Mit drei Jahren. Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. Sie lutschte an ihrem Delphin, den sie fest umklammert hielt, das Gesichtchen war vom Weinen verquollen. Er machte ihr ein Zeichen herzukommen, und sie näherte sich zögernd.
»Wenn ich ganz lieb bin,
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