Schneewittchens Tod
du sie ansiehst«, fügte sie mit sanfter Stimme hinzu.
Chib fühlte, dass er errötete, als Blanche, ihr höfliches Lächeln angeknipst, aus der Küche zurückkam und mit einem vagen Kopfnicken in Gaelles Richtung, wieder an ihnen vorbeilief. Kurz darauf steckte Andrieu den Kopf zur Tür hinaus »Trinken Sie doch ein Tässchen Kaffee mit uns.«
KAPITEL 20
Im Esszimmer klassische Musik - das Konzert Nr. 1 von Chopin -, während sich die Gäste in steifer Haltung um ein weltgewandtes Gespräch bemühten. Man hatte sich an die traditionelle Tischordnung gehalten, ein Mann, eine Frau. Jean-Hugues, Blanche, Josselin Dubois, Belle-Mamie, John Osmond, Noemie Labarriere, Clotilde Osmond, Paul Labarriere, Charles, Annabelle, Louis-Marie, Eunice.
John und Clotilde hatten, nach den roten Flecken auf ihren Wangen zu urteilen, schon einiges getrunken. Dubois betrachtete sein Glas Mineralwasser, als handelte es sich um eine besonders kommunikative Kristallkugel. Paul Labarriere und Andrieu diskutierten ausführlich über die jeweiligen Vorzüge der Fob-Super- und der Mary-Arn-Patronen für die Schnepfenjagd, woraufhin Chib automatisch sein Pflaster berührte. Noemie lauschte andächtig Louis-Maries Ausführungen zu dem 1984 in Moskau von Kissin dirigierten Chopin-Konzert Nr. 1, und Belle-Mamie erkundigte sich bei Charles nach seinen Schulergebnissen. Eunice zappelte auf ihrem Stuhl herum und flüsterte Bunny Geheimnisse ins Ohr, und Annabelle gabelte mit finsterer Miene kleine Brotkügelchen auf, während sie Verwünschungen murmelte, bei denen Chib das Wort »Dieb« herauszuhören glaubte.
Gaelle und er saßen am Tischende neben den Kindern und spürten deutlich ihre verstohlenen Blicke. Chib fühlte sich unwohl in seiner Haut. Wie ein Domestike, der von seiner Herrschaft zu Tisch geladen war, dachte er. Er war froh über die Ablenkung, als Colette den Teewagen mit dem Kaffee und den Süßigkeiten hereinrollte.
Er rührte mechanisch in seinem Espresso, was ihm einen kritischen Blick von Belle-Mamie einbrachte, als Chassignol und Winnie in karierter Golfkluft Einzug hielten.
»Ah, die Helden des Tages!«, rief John Osmond und hob sein noch halb volles Glas mit Lynch-Bages 91.
Winnie mit ihrer stets verzückten Miene am Arm, lächelte Chassignol in die Runde. Sie wurden mehr schlecht als recht am Tischende untergebracht, Winnie gleich neben Chib, den sie kaum grüßte.
»Wir sind Cordier im Club begegnet«, teilte ihnen Chassignol mit und schenkte sich ein Glas Bordeaux ein. »Er hat uns von Ihrem kleinen Hausmädchen erzählt … üble Geschichte!«
»Grässlich, diese Allergien!«, meinte Paul Labarriere und schenkte sich nach. »Aber Frauen scheinen eher betroffen als Männer, nicht wahr, Cherie? Weißt du noch, diese hässlichen roten Pusteln?«
Noemie warf ihm einen giftigen Blick zu.
»Urtikaria heißt das. Ich musste x Untersuchungen über mich ergehen lassen, bis wir endlich den Schuldigen gefunden hatten.«
»Und das war?«, erkundigte sich Clotilde Osmond, ihr Glas in der Hand.
»Federn.«
»Federn?«, rief die ganze Gesellschaft wie ein klassischer Chor aus.
»Wir hatten Kopfkissen mit Gänsefedern, und ich bin allergisch dagegen.«
»Wenn du mich fragst, war es Paul, der versucht hat, dich im Schlaf zu ersticken!«, höhnte Remi Chassignol.
»Sollten wir, anstatt Unsinn zu reden, nicht lieber anstoßen?«, fragte Paul liebenswürdig.
»Gute Idee.«
Chassignol hob sein Glas und legte den Arm erneut um seine Verlobte.
»Nun, das Datum für die Hochzeit steht fest - der sechsundzwanzigste Juni, - und ich hoffe, ihr erweist uns alle die Ehre, unsere Gäste zu sein.«
Rufe, Gratulationen, vages Lächeln von Blanche, Standbild aus Nebel, Phantom aus Fleisch. Andrieu sprach einen Toast aus, Dubois gab seinen Segen. Louis-Marie und Charles kicherten albern und warfen lüsterne Blicke in Winnies Richtung, Eunice und Annabelle nutzten die Gelegenheit, um ein Maximum an Süßigkeiten zu verdrücken.
Was habe ich hier zu suchen?, fragte sich Chib. Was habe ich in dieser Familie zu suchen, bei diesen Leuten, die ich unsympathisch und oberflächlich finde und denen ich zulächele wie eine folgsame Marionette. Und was betrachte ich die Leere in Blanche, die wie ein Abgrund ist, an dem ich mich gefährlich nah entlanghangele, was versuche ich zu verstehen, warum jemand ihnen Böses will, ihnen Böses antut? Wie könnte ich es verstehen, sie sind mir so fremd!
Plötzlich ein Gefühl von feindlicher Hitze. Er
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