Schneewittchens Tod
Radler finster.
Der Wirt wandte sich zu ihm, um etwas zu entgegnen, doch niemand sollte erfahren, was er sagen wollte, denn plötzlich riss ein Windstoß einen Teil des Plastikdachs davon, und eine Ladung Regenwasser ging auf Philomene und sein Herrchen und Frauchen nieder, die im Chor zu jammern begannen.
Chib fragte sich kurz, ob es Wirklichkeit war, dass er mitten in einem Mini-Unwetter an seinem vertrauten ruhigen Strand saß, in Begleitung einer Frau, die so substanzlos war wie ein Phantom. Ein Schwall kalten Wassers in seinem Gesicht aber machte ihm klar, dass es tatsächlich so war und dass es das Beste wäre, die Örtlichkeit zu verlassen, bevor der ganze Bau zusammenkrachte.
Er erhob sich. Blanche betrachtete ihn mit einem vagen Lächeln um die Lippen.
»Sie sind nicht wirklich ein Abenteurer, möchte man meinen.«
»Ich bin kein Masochist, nein. Also kommen Sie.«
Sie stand langsam auf, ließ sich Zeit, obwohl ihr das Wasser durch den gewaltigen Riss im Dach auf den Rücken rieselte.
»Wann hört dieser beschissene Wetterbericht endlich auf, uns zu verarschen!«, fluchte der Wirt und versuchte, den Schaden abzudichten.
Die Radler hatten sich ihre Drahtesel geschnappt. Philomene zitterte auf dem Arm seines Herrchens, der dem Ausgang zustrebte, während seine Frau noch den Wirt beschimpfte.
Blanche ging um den Tisch.
Eine Welle in Chibs Sichtfeld schwoll an.
Schwoll wirklich an. Wirklich zu sehr. Wie die gewaltigen Flutwellen, die man aus Katastrophenfilmen kennt.
Er streckte den Arm nach Blanche aus.
Bekam sie am Ellenbogen zu fassen.
Die Welle versperrte die Sicht auf den Horizont.
Er zerrte Blanche rücksichtslos hinter sich her. Sie stieß einen Protestschrei aus.
Es gab ein sehr leichtes Geräusch von zersplitterndem Glas. Ein Riss in der Scheibe? Ein Riss, der sich in ein Spinngewebe verwandelte. Dann zerbarst die Scheibe in tausend Stücke.
Brodelnder Schaum umspülte ihre Füße, leckte an ihnen, versuchte, sie mit sich zu ziehen. Chib hielt sich an einem Metallpfosten fest.
Widerwillig und mit einem dumpfen Knurren zog sich die Welle zurück. Blanche brach in Gelächter aus, ein hysterisches Gelächter.
»Finden Sie das zum Lachen, Sie blöde Kuh?«, brüllte der Wirt. »Verdammt, was ist daran wohl zum Lachen?!«
Chib schob sie zum Ausgang, sie ließ es geschehen, sie lachte nicht mehr, stieß so etwas wie winzige Schreie aus, Schreie wie von einem Hundebaby.
Die Rinnsteine waren überflutet, die Straße stand unter brackigem Wasser. Er umschlang sie, legte ihren Kopf an seine Brust. Er fühlte, wie sich ihre Hände gegen seine Schultern stemmten, sich wehrten, dann brach der Widerstand, es goss in Strömen, das Meer toste ohne Unterlass, er hielt Blanche in den Armen, und sie weinte.
Er streichelte ihre Schulter, ihr Haar, zögernd, ungeschickt. Sie legte das Gesicht, die Lippen an seinen Hals, er spürte ihren raschen Atem, er bekam eine Gänsehaut und zog sie noch etwas fester an sich.
Ihr Schluchzen ließ langsam nach. Schniefen. Leichter Rückzug. Sie hob den Kopf, wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Ihr Make-up war verschmiert. Schwarze Spuren unter den Augen. Unter ihrer klatschnassen Bluse zeichnete sich ihr zerbrechlicher Leib ab, ihre Haare tropften, Strähnen klebten ihr an der Stirn … Seine Hand strich über seinen Kopf, versprühte dabei unzählige winzige Tröpfchen von seinem Bürstenschnitt. Sie wich noch weiter zurück, räusperte sich, öffnete ihre Handtasche, als wollte sie etwas herausnehmen, schloss sie wieder.
Er fasste sie beim Arm.
»Kommen Sie.«
Sie bedachte ihn mit einem misstrauischen, feindseligen Blick. Er zuckte die Schultern. Sie folgte ihm.
»Hier.«
Er reichte ihr ein Handtuch, behielt eines für sich. Sie begann, ihre nassen Kleidungsstücke damit abzutupfen. Er zog sein Jackett aus und sein Hemd und rieb sich trocken. Wenn er von einem Fuß auf den anderen trat, gaben seine Schuhe ein quietschendes Geräusch von sich. Sie zog die ihren aus und begann, ihre Beine abzutrocknen.
»Ich muss spätestens um drei zu Hause sein«, sagte sie.
Sie sah ihn nicht an. Sie sah durchs Fenster in den aufgewühlten Himmel. Er legte das Handtuch auf den Kühlschrank. Es war 13 Uhr 30.
Tu's nicht, Chib. Tu's nicht. Es ist das Allerletzte, was du tun solltest.
Er tat es.
Er trat auf sie zu und legte eine Hand auf ihre nasse Schulter. Er legte die Hand auf ihre Schulter und zog sie an sich. Er zog sie an sich und legte die Lippen auf
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