Schneewittchens Tod
Aperitif?«
»Einen Suze, bitte.«
»Und ein Helles vom Fass.«
»Kommt sofort!«
Sie saßen sich schweigend gegenüber, bis man ihre Getränke gebracht hatte, ein Schweigen, erfüllt vom Tosen der Wellen.
Sie warf einen Blick auf die Karte, legte sie wieder beiseite.
»Ist Ihnen am Anfang bei der Arbeit nie übel geworden?«
»Beim ersten Mal musste ich mich übergeben«, gestand er. »Später habe ich gelernt, sie zu lieben. Mit dieser Liebe ist der Ekel verschwunden.«
Er nahm einen Schluck Bier. Sie trank die Hälfte von ihrem Suze. Der Wirt kam zurück. Chib bestellte ein Schwertfisch-Carpaccio, sie einen gegrillten Wolfsbarsch. Ohne Sauce. Eine Flasche Muscadet. Mineralwasser.
Chib ertappte sich dabei, wie er ein Stück Baguette zerkrümelte, und legte es schnell auf den Teller zurück. Der Wind war noch heftiger geworden. Manchmal vibrierten die Scheiben regelrecht. Morgen würde der Strand voller Tang sein. Der Wirt kam mit der Bestellung zurück. Der Muscadet war gut. Sie leerte ihr Glas. Er schenkte ihr nach. Trank ebenfalls. Das Bier auf nüchternen Magen war ihm schon zu Kopf gestiegen. Umso besser. Sollten sie nur beschwipst sein. Ohne Gedanken. Ohne Fragen.
Der erste Blitz ließ sie zusammenzucken. »Gleich kracht's!«, kommentierte der Wirt. Philomene fing an zu jaulen, die Schnauze zwischen die Waden seines Herrchens gesteckt, der immer wieder, wenn auch nicht überzeugend, sagte: »Benimm dich nicht wie ein Baby!« Blanche blickte nach draußen, stocherte dabei mit der Gabelspitze in ihrem Fisch herum und sagte unvermittelt: »Noemie Labarriere wird Sie sicher anrufen - wegen ihres Hundes.«
»Wie bitte?«
»Wegen Scotty, ihrem Terrier. Er hat sich mit seinem Halsband aufgehängt. Er hat wohl eine Katze gejagt. Man hat ihn an einem Pinienzweig erhängt gefunden.«
Er erinnerte sich an das kurze Gespräch zwischen Dubois und Belle-Mamie. Jemand hatte es für gut befunden, Blanche davon zu erzählen. Wahrscheinlich Noemie Labarriere selbst.
»Es heißt immer, die Stadt sei gefährlich für Tiere. Ich finde es auf dem Land noch viel schlimmer. Dies ist schon der vierte Hund, dem dieses Jahr etwas passiert ist«, fuhr sie fort.
»Sie werden oft überfahren«, stimmte er zu und bemerkte, dass sie nichts aß.
»Hm.«
Sie legte die Gabel ab, blickte ihn an: »Glauben Sie, dass man einen Hund so lieben kann wie ein Kind?«
»Philomene, jetzt reicht's aber!«
Er erwiderte ihren Blick.
»Sicher. Meiner Meinung nach kann man einen Gegenstand, ein Tier, einen Menschen, einen Ort mit der gleichen Intensität lieben.«
»Wollen Sie damit sagen, das Wichtigste sei nicht, was man liebt, sondern die Tatsache, dass man überhaupt liebt?«
Nein, er wollte gar nichts sagen. Er wollte sein Carpaccio essen und sie dabei ansehen. Er wollte sich neben sie legen und dem Regen lauschen. Er wollte, dass sie sich in Sicherheit fühlte. Für ihre Sicherheit hat sie ihren Ehemann, Chib, dafür braucht sie keinen Neger in Taschenformat.
Eine Welle, stärker als die anderen, krachte gegen den Zementsockel der Terrasse und besprühte die Scheiben mit Gischt.
»Ich hoffe, Ihre Scheiben halten was aus!«, rief einer der Radler lachend. »Sonst essen wir bald mit den Füßen im Wasser.«
»Keine Sorge! Aber heute Abend soll's richtig losgehen. Im November hat mir das Wetter schon einmal alles demoliert. Die Renovierungsarbeiten haben zwei Wochen gedauert.«
»Oh, sehen Sie nur, das Boot!«, schrie plötzlich die Frau mit dem kastanienbraunen Haar und erhob sich halb von ihrem Stuhl.
Ein Motorboot hatte sich von seinen Halteleinen losgerissen und wurde vor ihren Augen vom Wind zur Mole hingetrieben.
»Es wird zerschellen«, sagte einer der Radler voraus.
Die Wellen schoben das kleine Boot vor sich her, drückten den Bug unter Wasser, wie um es zu ertränken, und ließen es dann über die Kämme hüpfen.
»Man könnte meinen, sie foltern es.«, bemerkte Blanche gleichsam als Echo zu Chibs Gedanken.
Das Boot trieb geradewegs auf die Mole zu, halb untergetaucht, zerrieben zwischen dicken Schaumfingern. Plötzlich richtete es sich auf, die Nase im Wind, wie ein Zirkushund, der sich auf den Hinterbeinen vorwärts bewegt. Alle waren verstummt. Eine letzte Welle schob es brutal vorwärts, und das Boot flog in die Luft, schwebte für einige Sekunden unter den Wolken wie eine verrückte Collage, bevor es herunterfiel und gegen die spitzen Steine der Mole schlug.
»Verdammte Scheiße!«, kommentierte einer der
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