Schnelles Denken, langsames Denken (German Edition)
gesamtwirtschaftliche Effekt könnte durchaus positiv sein. Tatsächlich nennen Giovanni Dosi und Dan Lovallo wagemutige Firmen, die scheitern, aber besser qualifizierte Konkurrenten auf neue Märkte hinweisen, »optimistische Märtyrer« – sie sind gut für die Wirtschaft insgesamt, aber schlecht für ihre Investoren.
Selbstüberschätzung
Mehrere Jahre lang führten Professoren der Duke University eine Erhebung durch, bei der die Finanzvorstände von Großunternehmen die durchschnittliche Rendite eines Aktienindex von Standard & Poor’s im folgenden Jahr vorhersagen sollten. Die Duke-Wissenschaftler sammelten 11 600 derartige Vorhersagen ein und überprüften ihre Genauigkeit. Das Ergebnis war eindeutig: Finanzvorstände von Großunternehmen hatten keinen blassen Schimmer davon, wie sich der Aktienmarkt auf kurze Sicht entwickeln würde; die Korrelation zwischen ihren Schätzungen und dem tatsächlichen Wert lag knapp unter null! Wenn sie sinkende Kurse vorhersagten, stiegen diese tatsächlich tendenziell eher an. Diese Ergebnisse sind nicht überraschend. Die eigentlich schlechte Nachricht ist, dass die Finanzvorstände anscheinend nicht wussten, dass ihre Vorhersagen wertlos sind.
Zusätzlich zu ihren Schätzungen über die Wertentwicklung des S&P-Aktienindex gaben die Befragten zwei weitere Schätzungen ab: einen Wert, der ihrer Einschätzung nach mit 90-prozentiger Sicherheit zu hoch war, und einen anderen, der mit ebensolcher Sicherheit zu niedrig war. Die Spanne zwischen den beiden Werten wird »80-Prozent-Konfidenzintervall« genannt, und Ergebnisse, die außerhalb dieses Intervalls liegen, werden als »Überraschungen« bezeichnet. Eine Person, die bei mehreren Gelegenheiten Konfidenzintervalle festlegt, geht davon aus, dass etwa 20 Prozent der Ergebnisse Überraschungen sind. Wie es bei solchen Übungen häufig geschieht, gab es viel zu viele Überraschungen; ihre Häufigkeit betrug 67 Prozent, über dreimal mehr als erwartet. Dies zeigt, dass Finanzvorstände ihre Fähigkeit, die Marktentwicklung vorherzusagen, stark überschätzten. Selbstüberschätzung ist eine weitere Manifestation der WYSIATI-Regel: Wenn wir eine Größe schätzen, stützen wir uns auf Informationen, die uns spontan einfallen, und konstruieren eine kohärente Geschichte, in der der Schätzwert sinnvoll erscheint. Informationen zu berücksichtigen, die einem nicht einfallen – vielleicht weil man sie nie wusste –, ist unmöglich.
Die Autoren berechneten die Konfidenzintervalle, die die Häufigkeit von überraschenden Werten auf 20 Prozent reduziert hätten. Die Ergebnisse waren verblüffend. Um die Häufigkeit von überraschenden Werten auf dem gewünschten Niveau zu halten, hätten die Finanzvorstände Jahr für Jahr sagen sollen: »Die Wertentwicklung des S&P-Aktienindex wird im nächsten Jahr mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen minus 10 und plus 30 Prozent
liegen.« Das Konfidenzintervall, das das Wissen (genauer gesagt: das Unwissen) angemessen widerspiegelt, ist viermal breiter als die Intervalle, die sie nannten.
Hier kommt die Sozialpsychologie ins Spiel, weil die Antwort, die ein ehrlicher Finanzvorstand geben würde, schlicht lächerlich ist. Ein Finanzmanager, der seinen Kollegen mitteilen würde, die Rendite des S&P-Aktienindex liege mit hoher Wahrscheinlichkeit zwischen minus 10 und plus 30 Prozent, dürfte nur schallendes Gelächter ernten. Das breite Konfidenzintervall ist ein Eingeständnis der Unkenntnis, das für jemanden, der dafür bezahlt wird, sich in finanziellen Angelegenheiten gut auszukennen, gesellschaftlich nicht annehmbar ist. Selbst wenn diese Manager wüssten, wie wenig sie wissen, würden die Führungskräfte dafür bestraft, es zuzugeben. Präsident Truman wünschte sich bekanntermaßen einmal einen »einseitigen Ökonomen«, der einen klaren Standpunkt vertritt; er hatte die Nase voll von Ökonomen, die immer wieder sagten: »Andererseits …«
Organisationen, die sich selbst überschätzende Experten beim Wort nehmen, kann dies teuer zu stehen kommen. Die Studie über Finanzvorstände zeigte, dass diejenigen, die die Entwicklung des S&P-Index am optimistischsten beurteilten, zugleich die Aussichten ihres eigenen Unternehmens allzu optimistisch betrachteten, mit der Folge, dass es höhere Risiken einging als andere. Wie Nassim Taleb darlegte, veranlasst die unzulängliche Berücksichtigung der Unsicherheit des Umfeldes ökonomische Akteure zwangsläufig dazu, Risiken
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