Schock
Segment, nun ein tieferes Violett, in tausend Fenstern der nahezu unmerkliche Wandel zu Purpur, aus dem das Rot völlig verschwand, um nur ein noch tieferes Blau zu hinterlassen; endlich verschwand ein Fenster nach dem anderen, während die Dunkelheit stieg und die Nacht sich über sie senkte.
Noch immer kannten sie einander nicht. Sie aßen an dem Tisch am Fenster und redeten eifrig, tauschten Gesichtspunkte und Hintergründe, jeder versunken in den Anblick des anderen; sie schlürften den Wein, lobten wechselseitig das Essen, bedachten jede gestellte Frage, als hinge von ihrer Beantwortung Leben und Tod ab. Sie wechselten tastende Blicke, berührten forschend Hände, lachten zu laut über die Späße des Partners, waren ein wenig zu bemüht, einander das Bild eines Menschen vorzuspiegeln, in dem sich eine lebensvolle, erregende Vergangenheit summierte, teilten einander rücksichtslos offen Einfälle und Verlegenheiten mit. Ihre Fensterwelt schien ein abgeschlossener Bereich; dennoch spielten sie bewußt auch vor den anderen Gästen ihre Rollen, forderten sie auf, ihre Hochstimmung, ihre gegenseitige Versunkenheit, ihre gemeinsame Freude anzuerkennen, voller Angst, daß ihr romantisches Kennenlernen ohne diese Anerkennung dahinwelken und vergehen könnte.
Nach dem Essen bestellten sie Cognac. Sie wärmten die Schwenker in der Handfläche, starrten einander tief in die Augen; sie schufen eine Intimität, die auf der Stelle zerfiel, weil jedermann im Lokal sie zur Kenntnis nehmen sollte. Er durchschaute ihr Spiel, und er durchschaute auch sein eigenes; doch für ihn lag noch etwas darin, das sie vermutlich nicht spürte, vielleicht nie spüren würde. Für Romantik hatte sie Verständnis, ja; das gehörte nun einmal zu ihr, Oktobertraurigkeit, doch in ihrer Vorstellung hieß Romantik noch immer Ivanhoe und Wuthering Heights, die Plejaden und Edna St. Vincent Millay; Romantik forderte für sie noch immer ein bewunderndes Publikum, das dem gutaussehenden Paar vor der dunklen Fläche des Fensters zusah und an seiner Unterhaltung teilzunehmen wünschte. Romantik war für sie noch jener lächerliche Hollywood-Flitterkram, das Lux Radio Theater jeden Montagabend: »Zu Ihnen spricht jetzt Cecil B. de Mille aus Hollywood!«, grelle Jupiterlampen, bewundernde Augen: »Sieh nur ihr prachtvolles blondes Haar! Und was für eine Ausstrahlung!« Gewiß, auch er sah diesen romantischen Aspekt und spielte seine Rolle vor den Gästen des Lokals, weil er wußte, daß das Spiel vor einer Menge unbedingt zur Romantik gehört, daß sie ohne dieses Spiel nicht existieren kann. Und dennoch war er mehr als nur ein Schauspieler, der eine Generalprobe vor geladenen Gästen abhält. Was er in sich fühlte, drängte zu sehr nach Mitteilung, als daß er es hätte für sich behalten können.
Er war dabei, sich zu verlieben.
Und weil es so war, wollte er, daß jedermann im Raum auf seinen Stuhl stiege, Kusshände würfe und hemmungslos applaudierte. Jedermann sollte wissen, daß ihm diese seltene Narretei widerfuhr. Seht nur, was mit mir ist, um Himmels willen, seht es euch an, ist das nicht großartig, wollt ihr es nicht mit mir teilen? Seht nur, seht!
Sie wollte sich nicht mit ihm einlassen, das hatte sie von Anfang an gesagt.
»Wohin gehen wir jetzt?« fragte er.
»Machen wir eine Fahrt durch den Central Park«, sagte sie. »In einer Pferdedroschke. Und sehen wir uns die Sterne an. Zählen wir die Sterne.«
»Und die Sieben Schwestern.«
»Vor Orions Nachstellungen sicher.«
Romantik.
»Ich liebe dich«, sagte er.
»Wie sehr liebst du mich?« flüsterte sie.
Die Fenster waren dunstbeschlagen. Die Sterne hatten sich versteckt und ein scharfer Wind war aufgekommen; es sah aus, als stünde Regen bevor. Grace war in seinen Armen, lehnte sich an ihn, sah ihm ins Gesicht. Der Wind heulte wütend über die Kühlerhaube des Wagens, als wollte er sie abreißen. Er konnte sich vorstellen, daß der Wind die Haube abriss und sie den Abhang hinabsegeln ließ, an dem sie parkten, zwei Straßenecken von dem Haus ihrer Familie entfernt. Sie würde über die Dächer der Spielzeughäuser von Mount Kisco hinwegwirbeln und die Baumwipfel streifen, um endlich auf den Köpfen von Dan und Duke zu landen, die gerade ihren abendlichen Gang machten. Das Oberkommando des Heeres würde ihnen ein Ehrenbegräbnis auf dem Friedhof von Arlington zuerkennen, und auf dem Grabstein würde stehen: DAN-DUKE, HELD DER MENSCHENJAGD. Er beobachtete die Kühlerhaube; er
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