Schockstarre
Hardo, während er seinen Golf vorsichtig rückwärts ausparkte und probeweise voll auf die Bremse trat. Katinka warf ihm einen Blick zu, ohne einen Ton zu sagen, und betastete einmal mehr ihren Kopf. Hardos tragische Erfahrungen mit Glatteis machten ihn sensibel für Wetterlagen wie diese. Sie schielte auf die Temperaturanzeige. Null Grad, wunderte sie sich. Letzte Nacht waren es mindestens minus 10 gewesen.
Sein Handy klingelte.
»Ja?« Er stellte den Motor wieder ab. »Ist gut«, sagte er, nachdem er eine Weile schweigend zugehört hatte.
»Was war?«, fragte Katinka.
Hardo drehte den Zündschlüssel.
»Die Kollegen vom Drogendezernat. Sie haben richtig getippt, Katinka: Die Alchimisten geben ihre Kunden nicht preis. Keinen einzigen Mann aus der Agentur Fenering, deren Fotos ihnen gezeigt wurden, wollen sie wiedererkannt haben.«
»Auch Mendel nicht?«
Hardo verneinte.
»Jemand anders könnte das GHB gekauft und an Mendel verscherbelt haben«, schlug Katinka vor.
»Wer?«
»Ines Pawlowicz möglicherweise!«
»Haben wir ein Bild von ihr?«
»Nein. Nur in meinem Gedächtnis.«
Auf der Fahrt zurück passierten sie einige Gruppen städtischer Arbeiter, die umgeknickte Bäume von der Straße räumten. Winzige Wassertröpfchen besprühten die Windschutzscheibe. Hardo stellte die Scheibenwischer an. Widerwillig rutschten sie über das Glas.
Sie schafften es gerade noch, pünktlich zur Polizeidirektion zurückzukommen. Als sie das Besprechungszimmer betraten, empfing sie angespannte Geschäftigkeit.
»Folgendes«, legte Schilling los, kaum dass jeder auf seinem Stuhl saß. »Thurid Maas berichtete uns, dass Edith Hartmann tatsächlich vergangene Nacht bei ihr war. Frau Maas ist krankgeschrieben, der Arzt hat ihr ein Sedativum verordnet. Ich konnte nicht lange mit ihr sprechen. Sie sagte aus, dass Edith sich seit Mendels Tod sehr besorgt um sie gezeigt hätte. Thurid rief Edith gestern gegen sechs an und bat sie, zu ihr zu kommen. Edith Hartmann besorgte ihr die Arznei aus der Apotheke und sorgte dafür, dass Thurid sich hinlegte und ausruhte. Sie blieb die ganze Nacht.«
Ich habe Thurid mit meinen Fragen um den Verstand gebracht, dachte Katinka zerknirscht. Sie sah Hardo an. Wenn ich ihn verlieren würde …
»Thurid hat geschlafen, als Edith Hartmann sie verließ, hat aber mitbekommen, wie sie vorher noch telefonierte.« Schilling klackerte mit seinen Brillenbügeln wie mit Essstäbchen. »Wie haben die Wahlwiederholung gecheckt. Edith Hartmann hat sich schlicht und einfach ein Taxi gerufen.«
Katinka kräuselte die Stirn. Einfache Lösung, dachte sie.
»Wir haben auch den Taxifahrer schon ausfindig gemacht«, machte Großkopf weiter. »Er hat Edith Hartmann knapp vor 6 Uhr in Seidmannsdorf rausgelassen. Nach seinen eigenen Worten war er gestresst von der Fahrt, weil die Straßen zugeschneit waren, kaum dass die Räumfahrzeuge sie befahrbar gemacht hatten.«
»Hat er sich nicht gewundert, dass Frau Hartmann an so einer einsamen Stelle aussteigen wollte?«, fragte Katinka.
»Sie hat ihm erzählt, dass sie regelmäßig in der Fischerhütte eines Freundes nach dem Rechten sieht.«
»Wir wissen aber nicht, weshalb Edith Hartmann Lehmanns Grundstück angesteuert hat«, meldete sich Carolin Metze. »Frau Palfy, ist Ihnen letzte Nacht jemand gefolgt?«
Katinka konzentrierte sich, doch alles, was ihr einfiel, waren die Kälte und die Kopfschmerzen und die überwältigende, traumwandlerische Suche nach Schutz.
»Ich habe nichts bemerkt«, sagte sie schließlich. »Ich würde aber nicht die Hand dafür ins Feuer legen.«
Carolin Metze nickte abwesend und suchte Schillings Blick. Der drehte sich zu Großkopf:
»Was habt ihr aus dem Mann herausbekommen, der Hartmann die Veste hat verlassen sehen?«
»Leider nichts Brauchbares«, seufzte Großkopf. »Der Zeuge hat einen breit gebauten Mann gesehen, der sich schwerfällig bewegte. Mehr nicht.«
Die Ermittler guckten unzufrieden drein.
»Gut, vielleicht war es Hartmann. Er hat die Burg verlassen. Er könnte Ihnen nachgefahren sein, Frau Palfy. Denken Sie nach!«, insistierte Schilling. Er fuhr sich genervt mit der Hand unter den Rollkragen. Sein Pullover kratzt ihn, dachte Katinka, und dieser Gedankengang hielt sie gefangen. Die vergangene Nacht und die grauenvollen Kopfschmerzen. Sie sah sich selbst im Auto durch die Sturmnacht fahren, mit dem Dietrich die Tür zu Lehmanns Hütte öffnen, spürte den säuerlichen Geschmack von Erbrochenem in ihrem Mund.
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