Schockwelle
»Nur meine Kleidung. Mein monströses Schwesterherz hat mir nicht einmal einen Lippenstift gelassen, als sie mich aufs Boot gestoßen hat.«
»Rat mal, wen sie meint«, murmelte Giordino.
Pitt öffnete das wasserdichte Päckchen und holte ein Schweizer Offiziersmesser, einen uralten, zerschrammten Pfadfinderkompaß, eine kleine Streichholzschachtel, eine Erste-Hilfe-Ausrüstung, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, und eine Taschenpistole heraus, eine 6.35-Millimeter-Mauser-Automatik mit Reservemagazin.
Maeve starrte auf die kleine Waffe. »Du hättest John Merchant und meinen Vater erschießen können.«
»Eher hätte Pickett die Höhen von Gettysburg genommen. Da standen viel zu viele Wachposten herum.«
»Ich fand, daß du mächtig gut bestückt gewirkt hast«, sagte sie schelmisch lächelnd. »Hast du immer eine Survival-Ausrüstung dabei?«
»Seit meiner Pfadfinderzeit.«
»Wen willst du denn hier draußen erschießen?«
»Nicht wen, sondern was. Einen Vogel zum Beispiel, falls einer nahe genug vorbeifliegt.«
»Du würdest auf einen wehrlosen Vogel schießen?«
Pitt schaute sie an. »Nur ausnahmsweise, weil ich nämlich nicht gern verhungere.«
Während Giordino Luft in die Schwimmkörper pumpte und anschließend das Sonnensegel aufzog, nahm Pitt sich jeden Quadratzentimeter des Bootes vor, suchte nach Löchern und Abschürfungen in der Neoprenhaut der Schwimmer und überprüfte den Rumpf auf eventuelle Schäden. Er ging über Bord und strich mit der Hand über den Boden, entdeckte aber keinerlei Riß oder Bruchstelle. Ihr schwimmender Untersatz war schätzungsweise vier Jahre alt und hatte den Dorsetts offenbar als Beiboot gedient, wenn die Jacht mangels Anlegesteg draußen vor der Küste vor Anker gehen mußte. Erleichtert stellte Pitt fest, daß es zwar nicht mehr neuwertig, ansonsten aber in ausgezeichnetem Zustand war. Der einzige Nachteil war, daß der Außenbordmotor nicht mehr am Heck hing.
Er kletterte wieder an Bord und beschäftigte sie den ganzen Tag über mit allerlei kleinen Aufgaben, damit sie nicht fortwährend an ihre Notlage und den zunehmenden Durst dachten. Pitt wollte unbedingt dafür sorgen, daß sie den Mut nicht verloren. Er machte sich keine Illusionen darüber, wie lange sie aushalten konnten. Einmal waren er und Giordino fast sieben Tage lang ohne Wasser durch die Sahara marschiert. Dort herrschte trockene Hitze; hier hinge gen sog einem die schwüle Feuchtigkeit das Leben förmlich aus dem Leib.
Giordino zog die Nylonpersenning als Schutz vor den sengenden Sonnenstrahlen auf. Er spannte sie über das an der Instrumentenkonsole befestigte Paddel und band sie mit kurzen Schnüren, die er von der Nylonleine abschnitt, am Schwimmkörper fest. Die eine Seite ließ er schräg abfallen, damit das Regenwasser, das sie möglicherweise auffangen konnten, in eine Kühlbox geleitet wurde, die Maeve unter einem Sitz gefunden hatte. Sie schrubbte den Schmutz von der lange nicht benutzten Kiste und sorgte, so gut es ging, für Ordnung im Innenraum, damit das Boot etwas wohnlicher wurde.
Pitt zwirbelte unterdessen ein Stück Nylonleine auf und flocht aus den Fasern eine Angelschnur. Die einzige Nahrungsquelle im Umkreis von mindestens zweitausend Kilometern waren Fische. Wenn sie keine fingen, mußten sie verhungern. Er bog den Dorn an seiner Gürtelschnalle zu einem Angelhaken zurecht und befestigte ihn an der Schnur. Das andere Ende band er um das Mittelstück eines Schraubenschlüssels, so daß er ihn mit beiden Händen halten konnte. Er wußte nur noch nicht, womit er die Fische ködern sollte. Regenwürmer, Forellenfliegen, Blinker oder Käse gab es hier nicht. Pitt beugte sich über die Schwimmkörper, schirmte die Augen mit beiden Händen gegen das Sonnenlicht ab und schaute ins Wasser.
Unter dem Boot hatten sich bereits etliche neugierige Gäste eingefunden. Man bekomme auf offener See keinerlei Lebewesen zu Gesicht, klagen viele Menschen, die auf Ozeandampfern oder Jachten mit leistungsstarken, lärmenden Motoren durchs Meer pflügen.
Wenn man jedoch lautlos in einem kleinen Boot dahintreibt und aus nächster Nähe ins Wasser blickt, bekommt man sehr wohl einen Eindruck vom Leben in der Tiefe, das weitaus vielfältiger und artenreicher ist als alles, was das Land zu bieten hat. Ganze Schwärme heringsähnlicher Fische, nicht größer als Pitts kleiner Finger, flitzten unter dem Boot umher. Er erkannte Pompanos, Goldmakrelen oder Dolphins – nicht zu verwechseln mit
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