Schockwelle
meisten etwa Anfang der Siebzig, die offenbar an einem großen Tisch gesessen hatten, jetzt aber verkrampft und verkrümmt auf dem Teppich lagen. Beim Anblick dieser Eheleute, manche in einer letzten Umarmung erstarrt, empfand Pitt Trauer und Schmerz zugleich. Er kam sich unsäglich hilflos vor und verfluchte die unbekannte Ursache dieser schrecklichen Tragödie.
Dann bemerkte er eine weitere Leiche. Es war eine Frau, die in einer Ecke des Salons am Boden saß. Sie hatte das Kinn auf die Knie gestützt und den Kopf in die Arme gebettet. Sie trug eine schicke, kurzärmlige Lederjacke und eine Kammgarnhose, sie war nicht zusammengekrümmt, und allem Anschein nach hatte sie sich auch nicht erbrochen.
Pitt spürte, wie ihm ein Schaudern über den Rücken lief. Sein Herz schlug ein paar Takte schneller. Nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte, schritt er langsam durch den Salon, blieb stehen und blickte auf sie hinab.
Er streckte den Arm aus, berührte vorsichtig mit dem Finger ihre Wange und war zutiefst erleichtert, als sie sich warm anfühlte. Er rüttelte sie sanft an der Schulter und sah, wie ihre Augenlider zuckten und dann aufgingen.
Zuerst blickte sie ihn benommen und verständnislos an, dann riß sie die Augen auf, schlang die Arme um ihn und japste: »Sie leben!«
»Sie offenbar auch, und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich darüber bin«, sagte Pitt leise und lächelte sie an.
Sie riß sich jählings von ihm los. »Nein, nein, das kann nicht sein. Hier sind alle tot.«
»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben«, sagte er besänftigend.
Sie starrte ihn aus großen, rotgeweinten Augen an – ein trauriger, rätselhafter Blick. Ihr Teint war makellos, aber sie war eindeutig zu blaß und eine Spur eingefallen. Sie hatte kupferrotes Haar und braune Augen. Mit den hohen Wangenknochen und dem vollen Mund sah sie aus wie ein Fotomodell. Einen Moment lang schauten sie einander in die Augen, dann senkte er den Blick. Sie hatte auch die Figur eines Modells, soweit er das in ihrer jetzigen Stellung feststellen konnte. Die bloßen Arme wirkten ungewöhnlich muskulös für eine Frau. Als sie die Augen senkte und auf seinen Bauch schaute, war es ihm auf einmal peinlich, daß er sich einer Frau in langem Unterzeug präsentierte.
»Wieso sind Sie nicht anständig angezogen?« murmelte sie schließlich.
Es war eine unlogische Frage, aus der lediglich Angst und Schock sprachen, nicht aber Neugier. Pitt ging gar nicht darauf ein. »Verraten Sie mir lieber, wer Sie sind und wie Sie überlebt haben, als die anderen starben.«
Sie schaute ihn an, als werde sie jeden Augenblick umkippen, daher bückte er sich rasch, legte ihr die Arme um die Taille und zog sie in den nächstbesten Ledersessel an einem der Tische. Er ging zur Bar und trat hinter den Tresen, wo er auf den toten Barkeeper stieß.
Doch er war bereits darauf vorbereitet gewesen. Er nahm eine Flasche Jack Daniel’s aus dem verspiegelten Regal und goß ihr einen Kurzen ein.
»Trinken Sie das«, sagte er und hielt ihr das Glas an die Lippen.
»Ich trinke nicht«, versetzte sie schwach.
»Betrachten Sie es als Medizin. Nur einen Schluck.«
Sie kippte den Inhalt des Glases hinunter, ohne zu husten, verzog aber angewidert das Gesicht, als der Whiskey, der für den Liebhaber süßer schmeckt als der Kuß des Sommers, in ihrem Hals brannte. Nachdem sie ein paarmal keuchend Luft geholt hatte, schaute sie ihm in die grünen Augen und sah, wie betroffen er war.
»Ich heiße Deirdre Dorsett«, wisperte sie nervös.
»Und weiter«, verlangte er. »Das war erst der Anfang. Sind Sie Passagierin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin Unterhaltungskünstlerin. Ich bin als Sängerin und Pianistin im Salon engagiert.«
»Dann haben Sie also ›Sweet Lorraine‹ gespielt.«
»War vermutlich immer noch eine Reaktion auf den Schock.
Das Erschrecken darüber, daß alle tot sind, und weil ich dachte, ich wäre als nächste dran. Ich kann kaum glauben, daß ich noch lebe.«
»Wo waren Sie, als sich diese Tragödie ereignete?«
Beklommen schaute sie zu den vier alten Ehepaaren, die nicht weit entfernt am Boden lagen. »Die Frau in dem roten Kleid und der Mann mit den silbergrauen Haaren haben gemeinsam mit Freunden, die sie auf dieser Kreuzfahrt begleiteten, ihre goldene Hochzeit gefeiert. Am Abend vor dem Fest hat das Küchenpersonal extra für sie ein großes Herz mit einer Amorfigur aus Eis gestaltet, das in einer Schale mit Sektpunsch serviert
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