Schockwelle
bißchen an der Oberfläche gekratzt habe«, erwiderte Perlmutter und hielt den über tausend Seiten dicken Stapel hoch.
»Soweit ich das feststellen konnte, liest sich die Geschichte der Familie Dorsett wie ein großes Romanepos.«
»Was ist mit Arthur Dorsett, dem derzeitigen Oberhaupt der Familie?«
»Äußerst zurückgezogen. Taucht selten in der Öffentlichkeit auf. Halsstarrig, voreingenommen und durch und durch skrupellos. Wird von allen, die auch nur entfernt mit ihm in Kontakt kamen, einhellig abgelehnt.«
»Aber stinkreich«, sagte Pitt.
»Geradezu ekelhaft reich«, erwiderte Perlmutter und verzog das Gesicht, als hätte er gerade eine Spinne verschluckt. »Die Dorsett Consolidated Mining Ltd. und das House of Dorsett, eine Einzelhandelskette, befinden sich zu hundert Prozent im Besitz der Familie. Keinerlei Aktionäre, Gesellschafter oder Teilhaber. Außerdem untersteht der Familie eine Schwestergesellschaft namens Pacific Gladiator, die sich auf den Abbau farbiger Edelsteine konzentriert.«
»Wie hat er angefangen?«
»Dazu müssen wir hundertvierundvierzig Jahre zurückgehen.«
Perlmutter hielt sein Glas hoch, und Pitt schenkte ihm nach.
»Wir beginnen mit einem Drama auf hoher See, dessen Geschichte vom Kapitän eines Klippers aufgezeichnet und von dessen Tochter nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Es geschah im Januar 1856. Er beförderte seinerzeit Sträflinge, darunter auch etliche Frauen, zur australischen Strafkolonie an der Botany Bay, einer südlich der heutigen Stadt Sydney gelegenen Meeresbucht, und fuhr gerade auf nördlichem Kurs durch die Tasmansee, als sein Schiff in einen heftigen Taifun geriet. Das Schiff war die
Gladiator
, die unter dem Kommando von Charles ›Bully‹ Scaggs stand, einem der berühmtesten Klipperkapitäne jener Zeit.«
»Eiserne Männer auf hölzernen Schiffen«, murmelte Pitt.
»Das waren sie in der Tat«, pflichtete ihm Perlmutter bei.
»Jedenfalls müssen Scaggs und seine Crew gerackert haben wie die Wahnsinnigen, um das Schiff in einem der schlimmsten Stürme des Jahrhunderts vor dem Untergang zu bewahren. Doch als sich der Wind legte und sich die See beruhigte, war die
Gladiator
kaum mehr als ein Wrack. Da Käpt’n Scaggs wußte, daß sich sein Schiff allenfalls noch einige Stunden über Wasser halten konnte, gab er der Besatzung und allen verfügbaren Sträflingen den Befehl, aus den traurigen Resten der
Gladiator
ein Floß zu bauen.«
»Vermutlich blieb ihm nichts anderes übrig«, warf Pitt ein.
»Zwei dieser Sträflinge waren Arthur Dorsetts Vorfahren«, fuhr Perlmutter fort. »Jess Dorsett, sein Ururgroßvater, war ein berüchtigter Wegelagerer, und Betsy Fletcher, seine Ururgroßmutter, war zu einem zwanzigjährigen Freiheitsentzug in der Strafkolonie verurteilt worden, weil sie eine Decke gestohlen hatte.«
Pitt betrachtete die Perlen in seinem Glas. »Damals hat sich Verbrechen bestimmt nicht gelohnt.«
»Den meisten Amerikanern ist nicht klar, daß die Engländer bis zum Unabhängigkeitskrieg ihre Sträflinge auch in die Kolonien auf unserem Kontinent verfrachteten. Viele Familien wären überrascht, wenn sie erführen, daß ihre Vorfahren als Sträflinge an unsere Gestade gelangten.«
»Wurden die Überlebenden der
Gladiator
gerettet?« fragte Pitt.
Perlmutter schüttelte den Kopf. »In den folgenden fünfzehn Tagen spielte sich ein entsetzliches, mörderisches Drama ab.
Stürme, Durst und Hunger sowie ein wahnwitziges Gemetzel zwischen den Seeleuten, ein paar wenigen Soldaten und den Sträflingen dezimierten die Zahl derer, die sich verzweifelt an das Floß klammerten. Als es schließlich vor einer Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war, auf ein Riff trieb und zerbarst, wurden die an Land schwimmenden Überlebenden, so jedenfalls will es die Überlieferung, von einer Seeschlange vor einem großen Weißen Hai gerettet.«
»Was das Dorsettsche Firmenemblem erklärt. Die Leute waren fast tot und hatten Halluzinationen.«
»Würde mich nicht wundern. Nur acht der ursprünglich zweihunderteinunddreißig armen Seelen, die das Schiff verließen, konnten sich an Land retten – sechs Männer und zwei Frauen, alle mehr tot als lebendig.«
Pitt schaute Perlmutter an. »Das sind zweihundertdreiundzwanzig Tote. Das ist ja Wahnsinn.«
»Von diesen acht«, fuhr Perlmutter fort, »kamen später noch zwei um, ein Seemann und ein Sträfling, die im Streit um die Frauen getötet wurden.«
»Genau das gleiche wie nach der Meuterei auf
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