Schockwelle
vier Sekretärinnen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, und betrat ein Büro, das mitten in dem Gebäude lag – ein fensterloser Raum ohne jeden Ausblick auf das großartige Panorama der modernen Stadt, die sich vom Hafen aus nach allen Seiten ausbreitete. Es gab zu viele Männer da draußen, die er geschäftlich über den Tisch gezogen hatte und die ihn nur zu gern von einem Scharfschützen hätten erledigen lassen.
Hinter der Stahltür lag ein schlichter, geradezu spartanisch eingerichteter Raum mit zwei Meter dicken Wänden. Er wirkte wie ein riesiger Tresorraum. Von hier aus leitete Dorsett die diversen Bergbauunternehmen der Familie, hier bewahrte er die größten und kostbarsten Steine auf, die aus seinen Minen gefördert und in seinen Werkstätten verarbeitet und facettiert worden waren. Hunderte unglaublich schöner Steine lagen auf schwarzen Samt gebettet in gläsernen Schaukästen. Allein die in diesem Raum ausgestellten Diamanten waren schätzungsweise eineinviertel Milliarden Dollar wert.
Dorsett brauchte weder eine Schublehre noch eine Waage, um Größe und Gewicht eines Diamanten zu bestimmen, und Trübungen und Einschlüsse konnte er auch ohne Lupe erkennen.
Es gab niemanden in seinem Gewerbe, der einen geübteren Blick hatte als er. Unter all den unglaublichen Diamanten, die hier zu seinem Privatvergnügen zur Schau gestellt wurden, hatte es ihm vor allem einer angetan, der größte, prächtigste und vermutlich kostbarste Edelstein der Welt.
Es war ein Diamant von höchstem Reinheitsgrad, absolut makellos, schimmernd und durchscheinend, mit starker Brechung und einem ungeheuren Feuer, das unter dem Deckenstrahler zu voller Geltung kam, so daß das Auge schier geblendet wurde von der funkelnden Pracht dieses rosaviolett gefärbten Steins. Im Jahre 1908 war er von einem chinesischen Schürfer auf Gladiator Island entdeckt worden; er war der größte Stein, den man je auf einer Insel gefunden hatte – ein Rohdiamant von elfhundertdreißig Karat, der nach dem Verarbeiten immer noch sechshundertzwanzig Karat wog. Der Stein hatte einen sogenannten doppelten Rosenschliff mit achtundneunzig Facetten, die seine ganze Brillanz zur Geltung brachten. Wenn es einen Diamanten gab, der die Phantasie beflügelte, der einen von Liebeslust und Abenteuern träumen ließ, dann war es die Dorsett-Rose, wie Arthur ihn in aller Bescheidenheit genannt hatte. Er war unschätzbar wertvoll.
Wenige wußten um seine Existenz. Aber Arthur war klar, daß es rund fünfzig Männer auf der Welt gab, die ihn liebend gern ermordet hätten, wenn sie dadurch in den Besitz dieses Steins gelangen könnten.
Widerwillig wandte er sich ab und setzte sich an seinen Schreibtisch, ein monströses Möbelstück aus poliertem Lavagestein mit Mahagonischubladen. Er drückte auf einen Knopf und ließ seine Chefsekretärin wissen, daß er im Büro war.
Sie meldete sich augenblicklich über die Gegensprechanlage.
»Ihre Töchter warten schon seit fast einer Stunde.«
Ungerührt und in einem Ton, der so hart war wie die Diamanten im Raum, erwiderte er: »Schicken Sie die süßen Schnuckelchen rein.« Dann lehnte er sich zurück, bereit, den Aufmarsch seiner Töchter zu genießen, die sich in Körperbau und Charakter so voneinander unterschieden, daß es ihn stets aufs neue entzückte.
Boudicca, eine Riesin von klassischem Ebenmaß, schritt mit der Sicherheit einer Tigerin, die in ein ungeschütztes Dorf eindringt, durch die Tür. Sie trug eine Strickjacke mit Rippenmuster, einen dazu passenden ärmellosen Überwurf und eine dunkelbraungelblich gestreifte Hose, die in kalbsledernen Reitstiefeln steckte. Sie überragte ihre Schwester und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch alle Männer um Haupteslänge. Ihre amazonenhafte Schönheit beeindruckte jeden, der sie zu Gesicht bekam. Sie war kaum kleiner als ihr Vater, hatte die gleichen schwarzen Augen, doch ihre waren eher unheilverkündend und verhangen als stechend. Sie hatte kein Makeup aufgelegt, und die üppigen rotblonden Haare fielen ihr offen und ungebändigt bis auf die Hüfte. Sie neigte nicht zu Fettansatz, doch ihr Körper war wohlproportioniert. Ihre Miene war teils abschätzig, teils boshaft. Sie beherrschte ihre gesamte Umgebung, mit Ausnahme ihres Vaters natürlich.
Dorsett betrachtete Boudicca als seinen verlorenen Sohn. Im Laufe der Jahre hatte er sich widerwillig mit ihrem geheimen Leben abgefunden, denn für ihn war nur eins ausschlaggebend: Boudicca besaß den gleichen starren
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