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Schön scheußlich

Schön scheußlich

Titel: Schön scheußlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalie Angier
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Sinn ergibt. Wissenschaftler haben eine bemerkenswerte Klasse von Proteinen aufgetan, die nahezu ausschließlich als molekulare Muskelmänner wirken und fähig sind, sich das genetische Material der Zelle zu schnappen und die einzelnen Stränge binnen Sekundenbruchteilen zu Haarnadelkurven zu biegen. Dann springen sie genauso rasch, wie sie das Molekül des Lebens verbogen haben, wieder ab und lassen die DNS in ihre ausgestreckte Form zurückschnellen.
    Das Verbiegen der DNS spielt eine kritische Rolle für die Kontrolle von Genen. In manchen Fällen bringt es weit voneinander entfernte Stückehen genetischer Information so zusammen, dass daraus eine Arbeitsanweisung für die Zelle entsteht. In anderen Fällen bringt es verschiedene Proteinteams dazu, ihre Kräfte an einem besonders stark gebogenen Abschnitt zu bündeln und irgendwelche biochemischen Aktivitäten loszutreten. Durch das kurzfristige Anknabbern der DNS scheinen die Täter den Schwung des Immunsystems ebenso zu beeinflussen wie das Geschlecht eines Kindes oder das Gerangel zwischen einem Virus und seinem Wirt. Und diese Proteine liefern neue Beweise für die unter Wissenschaftlern wachsende Überzeugung, dass die komplexe Architektur der DNS mindestens ebenso entscheidend für das Verhalten von Genen ist wie die Sequenz der chemischen Buchstaben, aus denen die Gene bestehen.
    Den überzeugendsten Beweis für die Wichtigkeit der Flexibilität von DNS erbringt ein Protein, das weithin als Schlüssel zur Männlichkeit gefeiert wird und das sein großes Werk vollbringt, indem es als überaus mächtiger DNS-Verbieger wirkt. Dieses Protein trägt den Namen testis determining factor, kurz TDF, und wurde im Jahr 1990 erstmals als das bereits lange gesuchte Männlichkeitssignal identifiziert: ein Molekül, das irgendwie eine Kaskade biochemischer Ereignisse in Gang setzt, die dafür sorgt, dass aus einem Fetus unbestimmten Geschlechts ein kleiner Junge wird. Seither haben wir gelernt, dass dieser Faktor tätig wird, indem er DNS an vielen Orten auf den Chromosomen manipuliert und jede gerade Region, die er ins Auge fasst, um nahezu neunzig Grad knickt. Durch eine Serie solcher Faltungen und Umlagerungen können Moleküle, die anderweitig über die ganze Doppelhelix verteilt und ohne Nutzen sind, in Kontakt zueinander treten. Durch den eingreifenden Verbieger solchermaßen zu einem Geschwader vereint, werden die Moleküle zu aktiven Schaltern - Transkriptionsfaktoren und - verstärkern - , die imstande sind, eine Batterie von Genen zu mobilisieren und zur Produktion neuer Proteine und Enzyme zu veranlassen. Diese Proteine können die Geschlechtsknospen des Fetus zu kleinen Hoden formen und damit den entscheidenden Schritt zur Entstehung eines Mannes tun. Wenn man Jungen vorwirft, alles zu verunstalten, was ihnen unter die Finger kommt, so können sie sich also getrost auf ihre Gene berufen, die ja schließlich ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit verbogen werden mussten, bevor sie sie zu dem machen konnten, was sie sind.
    Ein anderes Protein, der so genannte lymphoid enhancer ractor (LEF), beeinflusst im Immunsystem die Produktion von T-Zellen. Dieses Protein ist ein noch leidenschaftlicherer DNS-Verbieger. Es faltet Chromosomen abschnittsweise zu Winkeln von hundertdreißig Grad und bringt, genau wie der Testis determinierende Faktor TDF weit voneinander entfernte, transkriptionswirksame Moleküle in Kontakt zueinander und sorgt so für den Start der Gen-Aktivität. In diesem Fall tragen die stimulierten Gene dazu bei, T-Zell-Rezeptoren zu produzieren. Das sind Proteine, die in die Oberfläche von Immunzellen eingelassen sind und so gut wie jedes fremde Element erkennen können, das den Körper bestürmt.
    Das Verbiegen von DNS spielt auch bei weit üblerem Unterfangen eine Rolle, beispielsweise beim Eindringen eines Virus in die Wirts-Chromosomen. Wissenschaftler, die das komplexe Zusammenspiel zwischen einer Bakterienzelle und den sie parasitierenden Viren - den Phagen - untersuchen, haben herausgefunden, dass das Virus in das Wirts-Chromosom eindringt, indem es die wirtseigenen DNS-Bindungsproteine für sich arbeiten lässt, die DNS zu Schlaufen aufwirft und dann still und heimlich seine parasitische Information in die verknotete Sequenz hineinschmuggelt.
    Viele der menschlichen Viren - insbesondere dasjenige, das an der Entstehung von Aids beteiligt ist - bedienen sich, wie man annimmt, ähnlicher Tricks. Sie knicken und biegen an der DNS herum, um sich dann

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