Schöne Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
auch.“
„Wie bitte?“
„Richard Dadd hat seinen Vater ermordet“, erklärte Stolz mit einem merkwürdig entrückten Lächeln. „ Er war geistesg e stört , wahrscheinlich schizophren - glaubte, sein alter Herr wäre der Leibhaftige. Da hat er ihn erstochen. Manche b e haupten, er hätte das Gehirn der Leiche gegessen. Die meisten seiner Wer ke entstanden in der Klapsmühle .“
„Oh.“
Lisa ärgerte sich darüber, wie der Mann einfach vom Thema abwich, aber sie war dennoch interessiert. Stolz merkte das, stand auf und schritt zu einem seiner Schränke, aus dem er einen großen Bildband herauszog und darin blätterte.
„Warten Sie, ich zeig es Ihnen... da haben wir’s!“
Er legte das riesige Buch auf eine Tischplatte , und Lisa beäugte mit ihm den Abdruck eines Gemäldes. Schon nach zehn Sekunden schwirrte ihr der Kopf.
„Was zum Teufel... ich meine, was – was stellt das dar?“
„Das ist Richard Dadds berühmtestes Werk, es trägt den Titel ‚The Fairy Feller’s Master-Stroke‘. Das ist schwer zu übe r setzen. Fairy bedeutet Fee, und es ging bei Dadd oft um Feen und andere mythische, magische Gestalten. Die Viktorianer waren ganz versessen auf das Thema, so wie junge Frauen ohne Sexleben neuerdings auf Vampire versessen sind. Was Dadd mit einem ‚Fairy Feller‘ meinte, ist mir nicht so ganz klar, aber es ist natürlich der Bursche da in der Mitte, der d a bei ist, eine Nuss zu zerhacken.“
Lisa musste sich konzentrieren, um die eigenartige Sz e nerie zu begreifen. Offenbar spielte es sich im Unterholz i r gendeines Waldes ab. Überall waren kleine, größtenteils me n schenähnliche Wesen zu sehen, das sollten wohl Feen sein. Sie sahen diesem Holzfäller-Feentyp zu, wie er zum Schlag auf die Haselnuss ausholte.
„Die Nuss soll eine Kutsche werden für eine der ganz kleinen Feen“, erklärte Stolz, wenn man dieses krude Szenario überhaupt erklären konnte. „ Dadd brauchte neun Jahre, bis er das Bild fertig hatte , obwohl es eigentlich gar nicht fertig war, sehen Sie, die linke untere Ecke ist nur skizziert . Er hat es so oft übermalt, dass es geradezu dreidimensional wurde. Ich hab es mir im Original im Tate Britain in London angesehen. Es ist nur etwas größer als diese Abbildung ! Wenn Sie sich jetzt diesen Detailreichtum ansehen, merken Sie erst, wie g e nial und gleichzeitig komplett durchgedreht Richard Dadd war, e r hat da wie ein Irrer mit Ein-Haar-Pinseln gearbeitet, w ährend er es doch in größerem F orma t viel leichter gehabt hätte! Naja, andererseits hatte er natürlich alle Zeit der Welt als Insasse einer Klapse. “
Lisa fühlte sich sehr unbehaglich, als sie sich die Figuren näher ansah. Einige sahen wirklich nicht mehr wie Menschen aus. Andere waren so winzig klein, dass man sie kaum sehen konnte. Und andere hatten einen Ausdruck im Gesicht, der sie bei einem Verdächtigen dazu gebracht hätte, ihm Handsche l len anzulegen und bloß keine hastigen Bewegungen zu m a chen. Das Bild eines alten Mannes mit riesigem Hut prangte mitten in der Szenerie, aber er verschmolz so mit dem Hinte r grund, dass sie ihn erst nach mehreren Minuten entdeckte.
„Dadd hat sogar ein Gedicht geschrieben, um das Bild zu erklären “ sagte Stolz, „e s steht auf der nächsten Seite, a ber es ist auf englisch. Er beschreibt jeden einzelnen Charakter in dem Bild, jede einzelne Fee. Und man kann erkennen, dass er vor allem von Shakespeare inspiriert war . Mein e Lieblings figu r ist dieser kleine alte Mann mit Bart. Ein Autor hat ihn in einem Roman so beschrieben: Er sieht aus wie jemand, der sich so lange gefürchtet hat, dass die Furcht zu einem Teil seines L e bens geworden war, wie Sommersprossen.“
Lisa fand den kleinen Mann, den Stolz meinte, und ein Schauer durchrieselte sie . Dies schien ein Gesich t s ausdruck zu sein, den man sich nicht ausdenken konnte. Der Maler hatte dieses Gesicht gesehen. Vielleicht im Spiegel.
„U nd Freddy Mercury war von dem Bild völlig besessen “, erzählte Stolz weiter . „ Es gibt einen Song von Queen mit de m selben Titel. Angeblich hat Mercury seine Band ständig in die Tate Gallery geschleift, damit sich alle das Bild ansahen.“
Stolz blickte Lisa ernsthaft an, er war wie ausgewechselt im Vergleich zu dem überheblichen Kotzbrocken, als der er die meisten Zeit seines Daseins zubrachte.
„Sie sehen vor sich das Kunstwerk eines geisteskranken Mörders“, flüsterte er. „Und wer weiß, vielleicht entsteht ger a de so etwas in
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