Schöne Neue Welt
man doch nicht die ganze Zeit!
Aber sonst? Äußerst wenig. Am Nachmittag ihres ersten
gemeinsamen Spazierflugs war besonders schönes Wetter
gewesen. Lenina hatte vorgeschlagen, im Zoppoter Kasinoklub zu schwimmen und auf der Solitüde zu essen. Aber Sigmund meinte, daß dort überall zu viele Leute seien.
Dann vielleicht eine Partie elektromagnetisches Golf in
Baden-Baden? Auch das nicht; elektromagnetisches Golf halte er für Zeitvergeudung.
Ja, wofür die Zeit denn sonst da sei? fragte Lenina
einigermaßen erstaunt.
Offenbar für Fußtouren im Allgäu; das schlug er nämlich
daraufhin vor. Auf der Spitze des Hochvogels landen und ein paar Stunden über die Almen wandern. »Ganz allein mit dir, Lenina!«
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»Aber Sigmund, wir sind doch die ganze Nacht
allein.«Sigmund sah errötend zur Seite. »Allein, um miteinander zu reden, meine ich«, murmelte er.
»Reden - worüber denn?« Wandern und Reden - ein seltsames Programm für einen freien Nachmittag!
Zuletzt überredete sie ihn, sehr gegen seinen Willen, nach London hinüberzufliegen und sich die Semi- Demi-Finale der Schwergewichtlerinnen-Boxmeisterschaft anzusehen.
»Mitten in der Menge«, murrte er, »wie immer.«
Während des ganzen Nachmittags blieb er hartnäckig
schlechter Laune, sprach kein Wort mit Leninas Bekannten, die sie in den Pausen zu Dutzenden in der Eiscremesoma-Bar trafen, und weigerte sich trotz seiner unglücklichen Stimmung
entschieden, ein Stachelbeereis mit Schlagsoma zu nehmen, das sie ihm aufnötigen wollte.
»Ich will lieber ich bleiben«, sagte er. »Ich, das Ekel. Und nicht ein anderer werden, auch wenn der noch so lustig wäre.«
»Bist du verdrossen, flugs Soma genossen!« sagte Lenina und gab damit eine schimmernde Perle Schlafschulweisheit zum besten.
Ungeduldig stieß Sigmund das Schüsselchen weg.
»Deswegen brauchst du nicht gleich heftig zu werden«,
besänftigte sie ihn. »Vergiß nicht, ein Kubikzentimeter vertreibt zehn Miesepeter!«
»Also jetzt sei doch um Fords willen endlich still!« schrie er.
Sie zuckte die Achseln. »Ein Gramm versuchen, ist besser als fluchen«, schloß sie mit Würde und aß das Eis selbst.
Auf dem Rückflug über die Nordsee ließ sich Sigmund nicht davon abbringen, den Propeller abzuschalten und, von den Hubschrauberflügeln getragen, fünfzig Meter über den Wellen in der Luft zu verweilen. Das Wetter hatte sich verschlechtert;
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ein Südwestwind war aufgekommen, und der Himmel hatte sich bewölkt.
»Sieh mal hinaus!« befahl er.
»Aber das ist ja schrecklich!« rief Lenina,
vom
Fensterzurückweichend. Die tosende Leere der Nacht, das schwarze, schaumgefleckte Wasser, das sich unter ihnen hob und senkte, das bleiche Antlitz des Mondes, so hager und verstört zwischen den jagenden Wolken, erschreckte sie. »Laß uns das Radio anstellen, rasch!« Sie gr iff nach dem Knopf auf dem Schaltbrett und stellte irgendeinen Sender ein.
» - der Himmel so blau«, sangen sechzehn tremolierende Falsette, »das Klima so lau -«
Ein Grunzen, dann Schweigen. Sigmund hatte abgeschaltet.
»Ich will das Meer ungestört betrachten«, erklärte er.
»Noch nicht einmal etwas betrachten kann man bei diesem
niederträchtigen Radau.«
»Aber das Lied ist doch so hübsch. Und ich will gar nichts betrachten.«
»Aber ich«, beharrte er. »Ich habe dabei ein Gefühl, als...« er zögerte, suchte nach dem richtigen Ausdruck, »... als wäre ich mehr ich selbst, wenn du das verstehen kannst. Als wäre ich etwas Selbständiges, nicht nur ein Teilchen von etwas anderem.
Nicht mehr nur eine Zelle im sozialen Organismus. Fühlst du das nicht auch, Lenina?«
Lenina schluchzte. »0 wie schrecklich«, wiederholte sie immer wieder, »wie schrecklich! Und wie kannst du solche Dinge sagen, kein Teil des Ganzen sein zu wollen? Jeder arbeitet doch für jeden. Wir können niemanden entbehren.
Sogar Epsilons -«
»- sind nützlich. Ich weiß«, spottete Sigmund. »Und ich bin auch nützlich. Aber verflucht noch mal, ich wollte, ich war's nicht!«
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Lenina war über diese Blasphemie entsetzt. »Sigmund!«
protestierte sie tief betroffen. »Wie kannst du nur?«
»Wie kann ich nur?« wiederholte er in verändertem Ton,
nachdenklich. »Nein, die eigentliche Frage heißt: Wie kommt es, daß ich nicht kann, oder vielmehr - denn ich weiß schließlich ganz genau, warum ich nicht kann - : Wie wäre es, wenn ich könnte, wie ich wollte; wenn ich freiwäre, nicht mehr der Sklave meiner
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