Schöne neue Welt
und spähte umher. Nichts rührte sich, nirgends ein Laut. Und doch hatte er deutlich etwas gehört, einem Seufzer vergleichbar oder dem Knarren einer Diele. Er schlich auf den Zehenspitzen zur Tür, öffnete sie vorsichtig und sah einen breiten Flur vor sich. Ihm gegenüber stand eine Tür ein wenig offen. Er ging zu ihr, stieß sie auf und blickte in den Raum dahinter.
Auf einem niedrigen Bett, die Decke zurückgeworfen, lag Lenina in einem rosa Zippoverall. Sie schlief fest und war so schön in ihrer Lockenfülle, so rührend kindlich mit ihren rosigen Zehen und ihrem schlafernsten Gesicht, so vertrauensvoll in der Hilflosigkeit ihrer schlaffen Hände und ihrer hingegossenen Glieder, daß ihm die Tränen in die Augen traten.
Unter endlosen, ganz überflüssigen Vorsichtsmaßna hmen - denn höchstens ein Revolverschuß hätte Lenina vor der Zeit aus ihrem Somatraum reißen können - trat er ins Zimmer und kniete neben dem Bett nieder. Er starrte sie mit gefalteten Händen an, seine Lippen bewegten sich.
»Ihr Aug'«, murmelte er.
»Ihr Aug', ihr Haar, Gang, Stimme, ihre Hand, Mit der verglichen alles Weiß wie Tinte Sich selbst das Urteil schreibt; ihr sanft Berühren Macht rauh des Schwanes Flaum -«
Eine Fliege umsummte sie, er scheuchte sie weg. »Fliegen«, entsann er sich, »- sie dürfen Das Wunderwerk der weißen Hand berühren Und Himmelswonne rauben ihren Lippen, Die sittsam, in Vestalenunschuld, stets Erröten, gleich als wäre Sünd' ihr Kuß.«
Ganz langsam und zögernd, wie jemand, der einen scheuen und möglicherweise auch gefährlichen Vogel streicheln will, streckte er die Hand aus. Sie hing zitternd in der Luft, wenige Zentimeter von Leninas schlaffen Fingern entfernt, zum Berühren nahe. Durfte er es wagen? Durfte er es wagen? Durfte er es wagen, seine unwerte Hand entweihend -? Nein, der Vo gel war zu gefährlich! Seine Hand sank zurück. Wie schön sie war, wie schön!
Und plötzlich ertappte er sich bei dem Gedanken, daß er nur den Zippverschluß an ihrem Hals zu fassen und einmal lange und fest daran zu ziehen brauchte... Er schloß die Augen und schüttelte den Kopf, wie ein Hund den Kopf schüttelt, wenn er aus dem Wasser kommt.
Nichtswürdiger Gedanke! Er schämte sich seiner. Sittsam, in Vestalenunschuld Es summte in der Luft. Noch eine Fliege, die Himmelswonne rauben wollte? Eine Wespe? Er blickte sich um und sah nichts. Das Summen wurde immer lauter, es kam von draußen, kam durch die geschlossenen Fenster. Das Flugzeug! In panischem Schreck sprang er auf und eilte ins andere Zimmer, sprang durch das offene Fenster und lief den Weg zwischen den ho hen Agaven hinunter; er kam gerade zurecht, um Sigmund Marx begrüßen zu können, als der aus dem Helikopter stieg.
Zehntes Kapitel
Die Zeiger der viertausend elektrischen Uhren in den viertausend Räumen der Brut- und Normzentrale in Dahlem zeigten auf zwei Uhr siebenundzwanzig. »Dieser emsige Bienenstock«, wie der Direktor gern sagte, summte von höchster Betriebsamkeit. Alle waren an der Arbeit, alles ging seinen geordneten Gang. Unter den Mikroskopen stürzten sich die Spermatozoen, heftig mit ihren langen Schwänzen peitschend, kopfüber in die Eier; die befruchteten Eier dehnten und teilten sich, oder sie trieben, wenn sie bokanowskysiert waren, Knospen und brachen auf in ganze Gruppen von Embryonen. Aus dem Bestimmungssaal glitten die Rolltreppen hinab ins Tiefgeschoß, wo in purpurner Nacht, wohlig warm auf ihren Bauchfellkissen, mit Blutsurrogat und Hormonen gefüttert, die Feten wuchsen und gediehen oder infolge Alkoholzusatzes zu armseligem Epsilontum verkümmerten. Begleitet von leisem Surren und Klirren wanderten die Flaschen auf den Förderbändern durch die Wochen, die verkürzte Äonen waren, bis im Entkorkungszimmer die Neuentkorkten ihr erstes gellendes Geschrei des Schreckens und der Überraschung ausstießen.
Im Keller surrten die Dynamos, die Aufzüge hasteten hinauf und hinunter. In den elf Stockwerken mit den Pflegesälen war Fütterungszeit. Achtzehnhundert sorgfältig etikettierte Babys saugten gleichzeitig aus achtzehnhundert Fläschchen ihren halben Liter pasteurisierten Außensekrets.
Über ihnen, in den zehn Etagen mit den Schlafsälen, waren die Kinder, die noch einen Nachmittagsschlaf brauchten, beschäftigt wie alle anderen, allerdings ohne es zuwissen. Unbewußt lauschten sie dem Schlafschulunterricht in Hygiene und sozialem Verhalten, Kastenbewußtsein und »Hosenmätzchens Liebesleben«. Über
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