Schöne Scheine
starrte die Wand an. Die Frau hatte den Eindruck gemacht, dass sie nur noch durch Mumm und Gin zusammengehalten wurde. Aber diese Vitalität, dieser Lebenswille ... dennoch konnte sie nicht auf ewig bei der Stange bleiben. Was würde jetzt geschehen? Er dankte den Göttern, dass er heil aus der Sache herausgekommen war!
Und heute war vermutlich kein guter Tag, wenn man Herr Quengler war. Feucht hatte den Eindruck gewonnen, dass er ein eher schwerfälliger Hund war, also sollte er lieber lernen, sehr schnell zu laufen.
Die letzte Post, die Gladys ihm heraufgebracht hatte, enthielt einen langen und bereits mehrfach benutzten Briefumschlag, der in dicken schwarzen Lettern »pesöhnlich« an ihn adressiert war. Er schlitzte ihn mit dem Brieföffner auf und schüttelte ihn vorsichtshalber über dem Papierkorb aus.
Darin befand sich eine zusammengefaltete Zeitung. Es war, wie sich herausstellte, die gestrige Times , und auf der ersten Seite war Feucht von Lipwig abgebildet. Er war eingekreist.
Feucht drehte die Zeitung um. Auf der Rückseite standen in winziger, ordentlicher Handschrift die Worte:
Sehr geehrter Herr, ich habe Vorkehrungen getroffen und verschiedene aidesstattliche Erklärungen bei vertrauenswürdigen Partnern hinterlegt. Du wirst wieder von mir hörn.
Ein Freund
Keine Panik, immer mit der Ruhe ... Das kann nicht von einem Freund sein. Alle, die ich für meine Freunde halte, beherrschen die Rechtschreibung. Das kann nur irgendein Schabernack sein, nicht wahr? Aber er wusste nicht, welche Leichen er im Keller haben sollte ...
Nun gut, wenn man es penibel genau nahm, waren es schon einige, vielleicht sogar genug, um eine große Krypta zu füllen, und vielleicht blieben sogar einige übrig, um ein Gruselkabinett auf dem Jahrmarkt mit Skeletten auszustatten und daraus ein paar Aschenbecher als makabren Partyspaß herzustellen. Aber man hatte sie nie mit dem Namen Lipwig in Verbindung bringen können. Darauf hatte er stets großen Wert gelegt. Seine Verbrechen waren mit Albert Spangler gestorben. Ein guter Henker wusste genau, wie stark das Seil sein musste, und er hatte ihn mit großem handwerklichen Geschick von einem Leben in ein anderes befördert.
Konnte irgendwer ihn wiedererkannt haben? Aber er war doch der am wenigsten wiedererkennbare Mann der Welt, wenn er nicht seinen goldenen Anzug trug! Als er noch ein Kind gewesen war, hatte seine Mutter häufig den falschen Jungen von der Schule abgeholt!
Und wenn er den Anzug trug, erkannten die Leute den Anzug wieder. Er versteckte sich durch seine Unauffälligkeit...
Es konnte nur irgendein böser Scherz sein. Ja, das war es. Die alte Nummer mit dem »dunklen Geheimnis«. Wahrscheinlich konnte sich niemand in eine höhere Position hinaufarbeiten, ohne dass es in seiner Vergangenheit ein paar Dinge gab, die er lieber nicht öffentlich machen wollte. Aber das mit den eidesstattlichen Erklärungen war ein netter Zug. Damit brachte man jeden, der zur Nervosität neigte, ins Grübeln. Es deutete an, dass der Absender etwas wusste, das so gefährlich war, dass der Empfänger versuchen könnte, ihn zum Schweigen zu bringen, aber der Absender war durchaus imstande, seinem Gegner die Anwälte an den Hals zu schicken.
Ha! Und man ließ ihm noch etwas Zeit, in der er wahrscheinlich im eigenen Saft schmoren sollte. Er! Feucht von Lipwig! Dann würde der Unbekannte eben erfahren, wie heiß so ein Schmorbraten werden kann! Vorläufig deponierte er den Brief in der untersten Schublade. Ha!
Es klopfte an der Tür.
»Herein, Gladys«, sagte er und kramte weiter im Eingangskorb.
Die Tür öffnete sich, und dahinter erschien das besorgte, blasse Gesicht von Stanley Heuler.
»Ich bin es, Herr. Stanley, Herr«, sagte das Gesicht.
»Ja, Stanley?«
»Der Leiter der Abteilung Briefmarken des Postamts, Herr«, fügte Stanley hinzu, falls seine erste Identifikation nicht hinreichend eindeutig war.
»Ja, Stanley, ich kenne dich«, sagte Feucht nachsichtig. »Wir sehen uns jeden Tag. Was möchtest du von mir?«
»Nichts, Herr«, sagte Stanley. Es folgte eine Pause, in der Feucht seinen Verstand darauf abstimmte, wie sich die Welt im Gehirn von Stanley Heuler darstellte. Stanley war sehr ... pedantisch. Und so geduldig wie ein Grab.
»Was ist der Grund, der dich veranlasst hat, an diesem Tag hierher zu mir zu kommen, Stanley?«, fragte Feucht, wobei er sich bemühte, den Satz möglichst deutlich zu artikulieren und zu gliedern.
»Unten ist ein Anwalt, Herr«,
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