Schöne Zeit der jungen Liebe
geben.« Sie lächelte nur und sagte: »Liebling, du bist ja doch gekommen.«
»Es ist nicht dein lieber Jocelyn«, sagte die Stimme bitter. »Es ist bloß der alte Charles.«
Mit einem Ruck setzte sie sich auf und starrte ihn angstvoll an. Er sagte: »Du hast geschlafen und dachtest, Jocelyn sei gekommen. Oh, und dieses Lächeln in deinem Gesicht, May, es war unbeschreiblich.«
Sie starrte ihn immer noch an.
»Wenn ich dieses Lächeln malen könnte... Aber ich kann es nicht. Kein Maler könnte es.«
»Habe ich wirklich gelächelt?« Sie war immer noch verwirrt.
»Ja, wie ein Engel. Oh, ich würde meine Seele hergeben für eine Frau, die mich so anlächelt.«
Impulsiv streckte sie die Hand aus, und er nahm sie und preßte sie an seine Lippen und hielt sie dort fest.
Immer noch schläfrig, machte sie einen Versuch, ihm ihre Hand zu entziehen. Aber es war zu heiß, und sie war zu schwach. Und so blieb sie mit halbgeschlossenen Augen sitzen. Die drückende Schwüle des Nachmittags lastete auf ihr. Ihre Glieder waren wie gelähmt und ihre Willenskraft erschlafft. Charles’ Blicke redeten eine Sprache, die sie normalerweise erschreckt hätte.
Sie wollte aufstehen, aber sie konnte es nicht.
Es war, als wären sie beide plötzlich zusammen mit der Landschaft verzaubert worden, so daß sie sich nicht mehr rühren konnten. Und dann geschah etwas Erschreckendes. In den hohen Ulmen raschelte etwas, kam näher, und aus dem Baum über ihr stürzte ein großer Vogel herab und schlug vor May zu Boden.
Sie schrie und sprang auf.
Einen Augenblick blieb der Vogel liegen und rieb den Schnabel am trockenen Gras, dann erhob er sich, breitete weit die Flügel aus, blickte zu dem grünen Blätterdickicht empor, das sein Heim gewesen war, und fiel um und regte sich nicht mehr.
Charles bückte sich und untersuchte den Vogel. »Eine Holztaube. Tot - und keinerlei Verletzung. Merkwürdig.«
»Das arme Tier«, sagte May. Doch stärker noch als Mitleid war das Erschrecken über den jähen Einbruch des Todes in ihre stille, friedliche Welt.
»Sieh - ist er nicht schön«, sagte Charles. »Diese Farben. Und wie wunderbar sie ineinander übergehen. Und der kleine, schmale Kopf und die Augen
Doch May schauderte immer noch, und sie wollte nicht hinsehen, sie wagte es nicht. Mit ausgebreiteten Flügeln, den Kopf stolz erhoben, hatte sich der Vogel emporschwingen wollen. Aber der Tod hatte ihm keinen Augenblick mehr gegönnt. In der Sekunde des Aufschwungs hatte er zugeschlagen. War das ein Omen? Sie wußte nicht wofür; sie wußte nur, daß jeder Nerv in ihrem Körper vibrierte. Sie war eins mit der hilflosen kleinen Kreatur, die da am Boden lag.
Auch Jocelyn war tief unglücklich. Dabei war es so lächerlich: Er brauchte May ja nur frank und frei zu fragen, was eigentlich geschehen sei. Aber er wollte nicht als erster davon anfangen. Und als die Tage vergingen und sie kein Wort sagte, wurde er immer unglücklicher und immer gereizter. Aber heute abend, als er allein in seinem Arbeitszimmer saß, beschloß er, die Sache in die Hand zu nehmen. Er mußte Bescheid wissen. Wenn May auch heute abend nichts sagte, wollte er sie einfach fragen, was zwischen ihr und Charles vorgefallen war.
Gar nichts war vorgefallen, sagte er sich immer wieder. Wäre etwas vorgefallen, so hätte May es ihm sofort erzählt. Es gab keine Heimlichkeiten zwischen ihnen. Und doch... May war unsicher gewesen. Nicht so wie sonst. Er konnte es nicht einfach alles von sich schieben.
Es tat immer noch etwas weh, es war ein dumpfer, pulsierender Schmerz. Natürlich nicht Eifersucht, das war unsinnig. Nein, es war keine Eifersucht. Es war nur... Oh, verdammt, Charles mußte wirklich ein Schwein sein.
May meldete sich am Haustelefon und sagte: »Jocelyn, wir essen in zehn Minuten.«
»Bitte bring mir was rauf, May. Ich kann hier jetzt nicht weg.«
Zehn Minuten später kamen Schritte die Treppe herauf. An dieser Stelle bat Othello um ihr Taschentuch, dachte er. Ruhig, nur ruhig! Und so lehnte er sich gelöst zurück und sah abwartend seiner lieben Frau entgegen. Ein freundschaftliches Gespräch würde jetzt alles klären, falls es überhaupt etwas zu klären gab.
Die Tür ging auf, und Christine Haldt kam auf Zehenspitzen herein, stellte ein Tablett auf den Tisch und wollte sich auf Zehenspitzen wieder davonmachen.
»Ich schlafe nicht, Christine«, sagte er.
»Nein, natürlich nicht. Ich weiß, daß Sie nicht schlafen, wenn Sie arbeiten. Aber ich wollte nur
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