Schoener Schlaf
das dazugehörige Zimmer im Blick. Die Balkontür blieb trotz des schönen Wetters geschlossen. Dann warte ich eben, dachte er, irgendwann wird sie kommen. Geduld war schon immer seine Stärke.
Er fühlte sich einigermaÃen wohl in der Enge des Campingwagens. Wie in einem Kokon, der ihn vor Angriffen vor auÃen schützte. Fast wie damals im Theater, dachte er. Und sah sich dort sitzen in ihrer Garderobe, inmitten von weichen, kostbaren Kleidern, in die er sich hineinschmiegte, während er seine Mutter, die groÃe Geraldine Moreno, mit groÃen Augen beobachtete.
Schon früh hatte er gelernt, dass er sich ruhig zu verhalten hatte. Kein Schreien oder Jammern, und wenn Leon mit Nörgeln bekannt gab, dass er auf die Toilette musste, wurde Luise Kranach herbeigeschrien, damit sie das Kind wegbrachte. Er lernte erst spät zu sprechen, aber als er damit anfing, produzierte er sofort komplette Sätze und kein kindliches Gestammel. Manchmal durften Fremde die Garderobe betreten. Dann präsentierte Maman ihren hübschen niedlichen Jungen voller Stolz. Er war auf den ersten Blick gar nicht als Junge zu erkennen. Leon hatte schulterlange blonde Locken und die Mutter staffierte ihn aus mit feinsten Kleidern, die eines jungen Prinzen aus der Vergangenheit würdig gewesen wären.
Doch leider hatte diese Zeit in seiner Pubertät ein natürliches Ende gefunden. Er passte nicht mehr in die Rolle des kleinen Prinzen.
Es wurde Mittag. Noch immer war Anna Stern nicht aufgetaucht. Ob sie verreist war? Dann hätte er ein Problem.
*
Niederländische Genremalerei hatte in den Räumen der Kunsthalle noch nie gehangen. Leist hatte sich zurückgezogen, um ein Schreiben an den Kunstverein zu entwerfen; Sucher wollte den Vorstand des Vereins so schnell wie möglich über die geplante Ausstellung informieren.
Angelo Salieri betrat den Raum. Schnell nahm sie ihre Brille ab.
»Wann wirst du endlich zugeben, dass du beim Lesen eine Brille brauchst?«, lächelte er.
Leist fühlte sich ertappt, merkte es, ärgerte sich darüber.
Er sah ihr den Ãrger an, trat zu ihr und strich über ihr Haar, das viel zu streng nach hinten gekämmt und zusammengebunden war. Die Zärtlichkeit traf sie voll ins Herz.
»Hör auf«, murmelte sie.
»Warum darf ich dir nicht nahekommen?«, fragte er. »Warum willst du das nicht?«
Sie schwieg und schob seine Hand weg.
»Becca, warum bist du so?«, fragte Angelo. »Warum glaubst du mir nicht, dass ich dich liebe?«
»Wir sollten uns um Albertos Bilder kümmern«, sagte sie und wandte sich wieder dem Papier zu, das vor ihr lag.
»Ja, lass uns weiterarbeiten«, nickte er und seufzte. »Sucher wird bald kommen und Ergebnisse sehen wollen.«
In den nächsten Stunden vermaÃen sie Bilder, entschlüsselten Signaturen, schätzten die Entstehungsjahre und entwarfen zu jedem Bild einige Stichworte, die später in die Bildbeschreibungen einflieÃen sollten.
Angelo fotografierte die Gemälde mit einer Digitalkamera, bearbeitete die Bilder am PC und druckte sie schlieÃlich aus.
Dr.  Sucher kam verspätet zum vereinbarten Termin, entschuldigte sich und schniefte mehrmals in sein Papiertaschentuch. Jeder in der Kunsthalle wusste, dass er an einer Stauballergie litt, und die vollgeschnupften Tücher, die er an den unmöglichsten Stellen hinterlieÃ, konnten nicht übersehen werden. Mitleidige Angestellte warfen sie stillschweigend mit spitzen Fingern in den Müll. Leist fand Suchers nasale Aussonderungen ekelhaft und hatte ihm einen guten Allergologen empfohlen, den er natürlich nie aufgesucht hatte.
Manchmal bedauerte Leist ihren Chef wegen dessen offensichtlich armseligen Lebens. Seine Hemden waren zwar sauber, aber fast immer ungebügelt und wurden nach der Wäsche so aufgehängt, wie es nur Männer können: krumm und schief, die Ãrmel eingeklappt, den Kragen nach sonst wohin gedreht. Bei Ausstellungseröffnungen versteckte er den zerknitterten Makel unter einer ärmellosen Weste, in deren Knopfloch eine Kette befestigt war. Die daran hängende silberne Uhr trug er in der Tasche.
Andererseits schätzte Leist ihren Chef. Er war nie launisch, kehrte nie den Boss heraus und war daher bei allen beliebt. Beliebter als sie selbst, wie sie immer wieder selbstkritisch feststellte.
Sucher studierte die Dossiers, die Leist und Salieri zu den einzelnen Gemälden
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