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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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die Software fertig. Ein Jahr Wartezeit war auf ein Wochenende zusammengeschmolzen!

© Richard F. Voss

    Warum aber sollte man Küstenlinien studieren? Ursprünglich hatte ich sie herausgegriffen, weil niemand ein beständiges Interesse an ihnen hatte und ich daher auch mit keinem Menschen in Konflikt zu geraten drohte, aber auch weil mein Vater verrückt auf Landkarten war. Von ihm hatte ich das Kartenlesen gelernt, noch ehe ich lesen und schreiben konnte. Zu den überzeugendsten Merkmalen der Fraktale gehört, dass sie uns in die Lage versetzen, die Natur zu imitieren. Nach der ersten allgemeinen Idee, mich mit Küstenlinien zu befassen, dachte ich daran, aus einer einfachen Formel zufallsbestimmte Küstenlinien und dann entsprechende Landschaften hervorgehen zu lassen. Ohne die Computergrafik wäre das eine Herkulesaufgabe gewesen.
    An einer Universität hätte dieses Farbgrafikgerät über das Projekt, das von der National Science Foundation finanziert wurde, weiterhin dieser Stiftung gehört. Deshalb wäre seine Nutzung streng eingeschränkt gewesen. In Yorktown dagegen gehörte es IBM und war diesem Projekt nur zugeteilt. Das heißt, das bei uns geltende Finanzierungsverfahren hatte beiläufig den Vorteil, dass jeder – innerhalb offensichtlicher Grenzen und mit passender Begründung – Zugang zu Gerätschaften hatte, die hinreichend engen Freunden zugeteilt worden waren.
    Als ich 1958 zu IBM ging, nahm ich – in viel größerem Maßstab – eine Lebensweise aus der Vergangenheit wieder auf. An die Stelle des Pariser Labors von Philips Electronics trat die riesige Einrichtung von IBM Research, und eine wenig anspruchsvolle Hochschule für Graduierte wich akademischem Nomadentum: einer Folge von Gastprofessuren auf klar getrennten und sehr unterschiedlichen Gebieten und von »Querverbindungen« zwischen Forschungsgebieten, die anscheinend nicht zueinander passten. Auf den ersten Blick schienen sie heftig miteinander zu kollidieren – doch in Wirklichkeit gab es da keinerlei Konflikte. Bald kristallisierte sich heraus, dass ich an Bausteinen meiner im Werden begriffenen Geometrie arbeitete – an der fraktalen Geometrie der Natur.

22
Ein Neuling und Unruhestifter in den Finanzwissenschaften setzt in Harvard eine revolutionäre Entwicklung in Gang
    (1962–1963)
    Meine – vollkommen ungeplante – Beschäftigung mit dem Verhalten der Preise auf Finanzmärkten wurde zu einer der Konstanten meines wissenschaftlichen Lebens. Diese revolutionäre Entwicklung inspirierte viele meiner späteren Arbeiten, die über scheinbar nicht miteinander verwandte Gebiete verstreut waren, und brachte mich zur rechten Zeit dazu, eine strikte Trennung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Formen von Zufälligkeit vorzunehmen, der »wilden« und der »milden«. Mehrere Jahre lang – als IBM auf Wachstum konzentriert gewesen war und man die Forschungsabteilung ständig umorganisiert hatte – hatte ich nur wenig getan, um wahrgenommen zu werden. Meine erste wichtige neue Arbeit bei IBM bestand in einer langen Veröffentlichung, dem Forschungsbericht NC 87 vom 26. März 1962. Mir war durchaus bewusst, dass meine Befunde zerstörerische Folgen für die akzeptierte Standardtheorie der Spekulation haben würden. Ich hatte es sehr eilig, die Arbeit abzuschließen, aber keinen vorrangigen Anspruch auf Unterstützung durch eine Schreibkraft. Ich konnte nicht darauf warten, dass sie professionell abgetippt würde, und so machte ich mich daran, sie auf meiner eigenen kleinen Schreibmaschine zu tippen – mit zwei Fingern! Das erbärmliche Schriftbild wurde ignoriert, und die Reaktionen auf den Inhalt kamen – nach akademischen Standards – blitzschnell und heftig.

© Benoît B. Mandelbrot Archives

    Dann kam ein Brief mit einer Einladung, in Harvard Wirtschaftswissenschaft zu lehren. Mit dem Brief in der Hand war ich zu meinem Vorgesetzten Ralph Gomory geeilt. Dieser hatte mich sehr erfreut zu seinem Vorgesetzten Herman Goldstine (1913–2004) geschickt, damals Direktor der mathematischen Wissenschaften. Ich hatte ihn in Princeton kennengelernt, als er John von Neumanns Stellvertreter gewesen war; und weil ich bei IBM relativ unbedeutend war, wurde das – seit Princeton – zu unserem ersten wirklichen Kontakt.
    »Was führt Sie denn heute zu mir?« – »Ich möchte mich für ein Jahr beurlauben lassen, damit ich an einer Universität lehren kann.« – »Sie wissen, dass diese Abteilung sehr von der Bedeutung der Lehre überzeugt

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