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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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einzustellen. In den Jahren zuvor waren die meisten neuen Kräfte bei IBM von kleinen Oberschulen oder der Handelsschule gekommen. Eine neue Flut aus konkurrierenden technischen Hochschulen sorgte täglich für ungewöhnliche Veränderungen.
    Während der Stammsitz von IBM errichtet wurde, zogen die Mitarbeiter in mehrere provisorische Niederlassungen um. Die größte lag im Dorf Yorktown Heights. Mich hatte man in das weit kleinere Lamb-Gelände versetzt – mit Gebäuden im Tudor-Stil, die über einen unglaublich schönen Ort mit Blick auf den Hudson River verstreut waren.
    Für jemanden, der bedeutende historische Ereignisse erlebt und viele Bücher über diese und andere Zeitabschnitte gelesen hatte, erinnerte die Atmosphäre bei IBM an einen Aspekt Frankreichs während der Revolution und des Kaiserreichs. Die vornehme Oberschicht des Ancien Régime war größtenteils emigriert oder hatte sich auf Gütern in der Provinz verkrochen, weshalb nur sehr wenige als vielversprechend geltende Männer für eine Beförderung verfügbar waren. Deshalb musste man die Auswahlkriterien ändern, was zur Lockerung der althergebrachten Ausschlussgründe führte. IBM befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer schwierigen Lage. Ausgelöst durch den Sputnik [5] der Sowjets, hatten Konkurrenten wie MIT, Bell Labs oder General Electric volle Kassen, was ihnen erlaubte, jeden mit makellosen Zeugnissen einzustellen oder zu importieren. Was aber machte IBM Research zu einem einzigartigen Experiment – historisch überaus bedeutsam, wenn auch nicht immer makellos geplant? Erstens zogen die gelockerten Einstellungskriterien viele Leute an, um die andere Einrichtungen nicht konkurrierten: »Spinner«, »Eigenbrötler«, Wissenschaftler, deren erstklassige Personalakten durch den einen oder anderen Makel oder durch Auseinandersetzungen mit Doktorvätern getrübt waren.
    Ich denke da an John Backus (1924–2007), der wahrscheinlich nie einen Betreuer hatte, weil er viele Hochschulen besuchte, aber nirgends lange blieb. Zeitweilig trug er kräftig zur Vorherrschaft von IBM bei. Anfangs war die Verwendung eines Computers äußerst schwierig und zeitraubend. Jedes Problem musste von Hand auf eine Vielfalt sehr präziser Anweisungen heruntergebrochen werden, die man in der dummen Maschine fest verdrahtet hatte. Mit einer kleinen Gruppe, ohne großen Wirbel und schneller als geplant entwickelte er eine Programmiersprache »von hohem Niveau« mit dem Namen FORTRAN (»Formeltranslator«), die nie ein Kunstwerk darstellte oder bewundert wurde, aber einen unstrittigen Vorteil besaß: Sie war verfügbar. Verglichen mit den früheren »Assembler«-Sprachen war sie geradezu paradiesisch. IBM hatte das Glück, dass John Backus nicht für einen Konkurrenten arbeitete. Oder auch John Cocke (1925–2002), der sich anhörte und aussah wie ein reicher Senator aus North Carolina. In der kleinen Kohorte der Leute, die alles von Computern verstanden, kam er vermutlich dem legendären Architekten für Supercomputer, Seymour Cray, am nächsten; insbesondere stammte die RISC-Architektur von ihm.
    Und ich denke an Gerd Binnig (noch überaus lebendig), dessen Personalakte lückenhaft war, der aber Alex Müller von IBM beeindruckte, weil er genug im Kopf hatte, »den schweren Schweizer Teig« der IBM-Filiale in Zürich »aufgehen zu lassen«. In der Folge erfand er das Mikroskop, das Atome sichtbar macht, brachte IBM eine Flut von Lizenzgebühren ein und schuf die Nanowissenschaft. Für seine Arbeit erhielt er den Nobelpreis in Physik.
    Das machte ihm im folgenden Jahr Alex Müller nach, der den Preis nicht für seine Fähigkeiten als Manager bekam, sondern weil er die Hochtemperatur-Supraleitung entdeckt hat – der Auslöser eines »Woodstocks der Physik«.
    Schließlich wurden viele der »Spinner« ruhiger oder gingen fort, doch mehrere Dutzend blieben auch. Ihre lückenhaften, unangemessenen oder unkonventionellen frühen Lebensläufe gerieten in Vergessenheit, und ihre Beiträge brachten ihnen Mitgliedschaften in Akademien, fünf Nobelpreise und unzählige andere Ehrungen ein.
    Hat dieses ungeplante Experiment irgendetwas bewiesen? Mir kann man keinen Neid gegenüber jenen vorwerfen, die gute Examina ablegen (und auch nicht, ich würde die Hand beißen, die mich gefüttert hat), wenn ich festhalte, dass das Experiment bei IBM meinen andauernden Mangel an Respekt für Examensranglisten bestätigt hat.

Computerprogrammierung in einer Zeit ohne

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