Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Benoît B. Mandelbrot Archives
Bachelier hatte angenommen, dass Preisänderungen einer alten und vertrauten, nach Gauß benannten Häufigkeitskurve folgen. Ihr Hauptmerkmal ist, dass große Abweichungen von der Norm extrem unwahrscheinlich sind und deshalb keine Rolle spielen. In den folgenden Tabellen von Preisschwankungen folgt die obere Kurve Bacheliers Modell – die meisten Änderungen sind klein. Die mittlere gibt eine reale Preisfolge der IBM-Aktie wieder – hier zeigen sich einige Ausreißer und weit größere Fluktuationen als in Bacheliers Modell. Die untere Kurve beruht auf meinem computergenerierten multifraktalen Modell – es zeigt, dass es tatsächlichen Aufzeichnungen der Preise auf Finanzmärkten entspricht.
Ich verschaffte den Daten eine geistige Heimat – es ist keine Überraschung, dass diese Heimat kaum einem Praktiker der Branche bekannt war. Tatsächlich war ich durch Paul Lévys Lehre mit einer Kuriosität vertraut geworden, die er als Stabilität bezeichnet hatte und die ich gern Lévy-Stabilität nenne. Daher konnte ich das Verhalten als eine Eigenschaft der Preisänderungen identifizieren. Während meiner Arbeit bei IBM hatte ich Zugang zu einem Rechenzentrum, wo tatsächlich erstmals Lévy-stabile Dichteverteilungen berechnet werden konnten.
Im Fall der Baumwolle war die Übereinstimmung – ohne Mogeleien – überzeugend. Meine erste Arbeit auf dem Finanzsektor hatte zwei weit voneinander entfernte Wissensgebiete zusammengebracht. Überraschenderweise stimmte die stabile Verteilung in allen Details mit den Daten überein – insbesondere hinsichtlich einer Symmetrie in der Verteilung, die früheren Untersuchungen entgangen war.
Addiert man viele statistische Werte, so ist, wie oft behauptet wird, praktischerweise selbst der größte im Vergleich zur Summe zu vernachlässigen. Doch es ist schon lange bekannt, dass das Gegenteil geschehen kann – aber nur in Fällen, mit denen Statistiker in der Praxis nicht zwangsläufig zu tun haben. Einer meiner lautstarken Gegner behauptete wiederholt, diese Fälle seien »unangemessen«, doch diese Ansicht führte ihn auf Abwege. Experten waren diese Fälle tatsächlich bekannt, doch man glaubte, sie gehörten der als irrelevant angesehenen reinen Mathematik an. Als ich sie in die allzu praktische Finanzwissenschaft einführte, setzte ich mich für eine tief reichende Unterscheidung zwischen »milden« und »wilden« Formen des Zufalls ein und brachte sie zur Geltung. Nach allem, was ich weiß, hatten alle früheren Arbeiten über Preise keine Vorstellung von dieser Wildheit gehabt und sich vertrauensvoll darauf verlassen, dass die Wirklichkeit von einer Art des Zufalls gelenkt wurde, die »angemessen« und folglich mild war.
Die drei Zustandsformen des Zufalls – wild, mild und langsam – können mit den drei Zustandsformen der Materie verglichen werden. Sind nicht fester und gasförmiger Zustand durch den flüssigen getrennt? Meiner Ansicht nach gilt das auch für den Zufall – die Entsprechung zum flüssigen Zustand ist der »langsame« Zufall. Und wie der Zufall so spielt, sind Flüssigkeiten sehr viel schwieriger zu untersuchen.
Ein zweifelhaftes Kompliment?
Es gibt kaum einen Zweifel, dass Mandelbrots Hypothesen seit Bacheliers ursprünglicher Arbeit von 1900 die umwälzendste Entwicklung in der Theorie spekulativer Preise darstellen. Seine Arbeiten zwingen uns, uns grundlegend mit jenen unbequemen empirischen Beobachtungen auseinanderzusetzen, welche die meisten von uns zweifellos bislang gern unter den Teppich gekehrt haben. Mit Entschlossenheit und Hingabe hat er als integralen Bestandteil seiner Argumentation Beweise angeführt, die eine kompliziertere und weit beunruhigendere Sicht der Wirtschaftswelt erkennen lassen, als die Wirtschaftswissenschaftler bisher angenommen hatten … Wie vor ihm Premierminister Winston Churchill verspricht uns Mandelbrot kein Utopia, sondern Blut, Schweiß und Tränen. Falls er recht hat, sind fast alle unsere statistischen Werkzeuge und die ökonomische Arbeit der Vergangenheit bedeutungslos …
Aber ehe wir Jahrhunderte der Arbeit auf den Müll werfen, hätten wir doch gern mehr Gewissheit, dass unsere ganze Arbeit wirklich nutzlos ist.
Diese Mischung aus schwachem Lob und hinterhältiger Attacke stammt aus einem Text des Ökonomen Paul H. Cootner (1930–1978). Im Dezember 1962 las ich ihn zu ersten Mal. Fachlich wäre seine Attacke leicht zu beantworten gewesen, aber politisch brachte sie
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