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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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hatte die Angelegenheit einen großen Haken: Aus Sicht meines alles überwölbenden Lebenstraums war das Timing fürchterlich. Die fraktale Geometrie erlebte eine Blütezeit; IBM und ich hatten genug Material zusammengetragen, um das in Vorbereitung befindliche französische Buch von 1975 überarbeiten zu können und ein umfangreicheres englisches Buch in Angriff zu nehmen. Wenn ich die »spanische Herberge« in Frankreich angemessen ausstatten wollte, würde das diese Pläne hinauszögern oder vielleicht gar torpedieren, da es mir die Versuchungen eröffnet hätte, die ein Spitzenlehrstuhl in Paris für einen eigensinnigen Intellektuellen bereithält. Das mag sich lächerlich anhören. Doch meine brennenden wissenschaftlichen Ambitionen standen an erster Stelle, und ich wollte nichts unternehmen, was sie gefährdet hätte. Natürlich hätte ich Kompromisse in Betracht ziehen können. Für einen Professor am Collège lassen sich die Verpflichtungen eines Jahres leicht in einem Semester unterbringen. Das erlaubte es Szolem und anderen, die weder ein Labor noch eine wachsende Familie hatten, jedes zweite Semester in den USA zu verbringen. IBM würde vielleicht einverstanden sein. Tatsächlich dürfte meine triumphale Vorlesung vom Januar 1973 wohl mit dazu beigetragen haben, dass ich im folgenden Jahr zum IBM-Fellow aufstieg, was mir viel mehr Freiheit einbrachte. Ein besserer Taktiker mit weniger Jetlag-Problemen hätte vielleicht zugesagt und in Teilzeit bei IBM weitergemacht. Doch meine Position war heikel. Ich bedankte mich bei Lichnerowicz und lehnte die Offerte ab. Am Telefon war nicht festzustellen, ob ihn das überrascht hat.

1973: Mutter stirbt
    Bezahlte Auszeiten wurden bei IBM nicht offiziell angeboten, konnten aber ausgehandelt werden. Für mich war eingeplant, dass ich das Jahr 1968/69 in Paris als Guggenheim-Stipendiat verbringen sollte. Doch politische Unruhen – die Ereignisse des Mai ’68 – kamen dazwischen. Es war klar, dass ihnen ein schwerer Kater folgen würde, für dessen Dauer Besucher unwillkommen sein oder sich zumindest ungemütlich vorkommen würden, besonders jene mit Pariser Hintergrund. Deshalb wurde meine Auszeit auf 1972/73 verschoben, als Mutters Gesundheitszustand besorgniserregend wurde.
    Mutter, die nur wenig jünger als Vater war, hatte kein Problem mit dem Älterwerden. Sie kümmerte sich um Léons drei Töchter und verfolgte meine Karriere mit zunehmendem Stolz, ohne aktiv darauf Einfluss zu nehmen. Als Bruder Léon in seine damalige Wohnung umzog, wechselte sie in ein kleineres Appartement im selben Haus. Ihre Ärztin, eine brillante und lebhafte Cousine Aliettes, bewunderte und mochte sie sehr und hielt es für eine gute Idee, sie jeden Sommer zu einer »Kur« zu schicken. Ihre Briefe an die Ärzte vor Ort waren sehr bestimmt: Mutter sei einfach nur alt und sollte eine sehr milde Behandlung erhalten. In einem Jahr war der örtliche Arzt sehr ungeschickt, weshalb Mutter als ehemalige Medizinerin zu einem anderen Doktor wechselte. Dieser traktierte sie jedoch so ungestüm, dass Bruder Léon sie nach Hause holen musste. Ihre Energie hatte stark abgenommen. Aliette und ich boten an, Bruder Léon für den Sommer 1971 von der Sorge um sie zu entlasten. Und für das Jahr 1972/73 genehmigte IBM mir das erwähnte Sabbatjahr, sodass wir es in Paris verbringen konnten. Wir waren bei ihr, als ihr Zustand sich verschlimmerte; sie starb im Januar 1973. Ihr Leben war lang und unendlich kompliziert gewesen – am Ende aber erfüllt und glücklich. Bei einer der letzten Gelegenheiten, an denen ich sie noch lebend und annähernd bei Bewusstsein antraf, schilderte ich ihr das großartige Ereignis: meine Vorlesung am Collège de France. Ich hoffe, sie hat mich verstanden und noch so viel Kraft gehabt, dass sie sich darüber freuen konnte.

Besuche beim Stockholmer Mittag-Leffler-Institut
    Das mathematische Forschungsinstitut der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften liegt in dem eleganten Stockholmer Vorort Djursholm, wo es in einem wundervollen früheren Herrenhaus des facettenreichen Viktorianers Gösta Mittag-Leffler (1846–1927) untergebracht ist. Die Einkünfte aus dem riesigen finnischen Waldbesitz seiner Ehefrau hatten es ihm ermöglicht, ein Herrenhaus nach seinem Geschmack zu bauen. Es besteht aus einer großen, aber nicht extravaganten bürgerlichen Wohnung mit mehreren Unterkünften für Bedienstete und einer dreigeschossigen Bibliothek, die jeder Universität zum

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