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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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hatte ich den Einfall, mich nach dem Schicksal eines Klassenkameraden zu erkundigen, dessen Schwester die Angestellte der Präfektur war, die absichtlich unsere Akte verlegt hatte. Der Klassenkamerad hatte sich lautstark als Freund der Deutschen bekannt, aber anscheinend war er zu schwach gewesen, wirklich zum Schurken zu werden. Pierre erwiderte, er teile meinen Eindruck, und er habe 1944 Wert darauf gelegt, diesen Klassenkameraden persönlich festzunehmen. Weswegen? Um ihm zu sagen, dass er widerwärtig, aber kein Verbrecher gewesen sei. Wenn man ihn jedoch in der Erregung nach der Befreiung vor Gericht gestellt hätte, wäre er wahrscheinlich ins Gefängnis gewandert, anschließend in seine angestammte Umgebung zurückgekehrt und hätte so den Hass des Krieges weitergetragen. Er ließ den Klassenkameraden frei und legte ihm dringend nahe, Frankreich für fünf Jahre zu verlassen. Der Rat wurde befolgt; mit der Zeit schwand die Wut des Missetäters, und er kehrte als Nachbar zurück, mit dem man leben konnte. Ich war tief beeindruckt von Pierre.
    Ein halbes Jahrhundert später, 1999, wurde ich eingeladen, vor einer sehr exklusiven Konferenz im Vatikan einen Vortrag zu halten und Aliette mitzubringen. Zu unserer Überraschung und Freude gewährte man uns das Privileg einer Audienz bei Seiner Heiligkeit, Papst Johannes Paul II. Zunächst schlängelten wir uns durch die unglaublich pompösen Privatgemächer, das Allerheiligste des Vatikans, gewaltige Räume mit wenig Möblierung, aber glanzvollen Gemälden von Raffael und mit Soldaten der Schweizergarde in ihren von Michelangelo entworfenen Uniformen. Überall Priester, Bischöfe und Kardinäle, der jeweilige Rang ausgewiesen durch diskrete Bändchen. Das Erlebnis all dieses aufgeblasenen Prunks schrie danach, an Pierre übermittelt zu werden. Beim Versuch, die Lektionen von Marie-Thérèse Tronchon aufzufrischen, stellte ich fest, dass meine Fähigkeit, im höfischen Französisch des 18. Jahrhunderts zu schreiben, leider stark verkümmert war, doch ich habe mein Bestes gegeben.
    Ein paar Wochen darauf antwortete Pierre mit einer gänzlich unerwarteten Geschichte. Die Umgebung von Tulle, wohin er zurückgekehrt war, hatte nur wenige Einwohner und sehr wenige überforderte Landpfarrer, die jeden Sonntag zwischen Messen in fast verlassenen Kirchen pendelten. Da Pierre zum spirituellen Laienführer vor Ort geworden war, las er den Leuten meinen Brief in der Hoffnung vor, sie würden sich darüber amüsieren. Ganz und gar nicht: Sie waren empört und kritisierten mich, weil ich Seine Heiligkeit so dargestellt hatte. Pierre musste mich verteidigen: Ich sei nur Zeuge und kein Mitverschwörer.

5
Weiter nach Lyon: Verschärfte Besetzung und Selbstfindung
    (1943–1944)
    Zwischen 1940 und 1942 wurde das Leben also zunehmend schwieriger. Dennoch waren wir keine hilflosen Flüchtlinge in einem feindlichen Land. Als die deutsche Wehrmacht 1942 den Süden Frankreichs besetzte, lag Tulle abseits in seinem engen Tal und war ohne Bedeutung. Das einzige schöne Hotel am Quai wurde Sitz einer Kommandantur, doch von denen war selten etwas zu sehen. Ein Jahr verging, ohne dass etwas Schlimmeres passierte als der eine oder andere Alarm, der uns in sichere Häuser scheuchte. Bruder Léon beendete die höhere Schule. An einem schicksalhaften Tag im Frühherbst 1943 besuchte uns dann unser enger Freund, Monsieur Eyrolle. Er weinte fast bei der Nachricht, dass sein Freund, unser Beschützer aus der Ferne – das politische Stehaufmännchen Henri Queuille –, jeden Einfluss verloren hatte und sogar selbst in Gefahr war.
    Nun wurde die Situation tatsächlich problematischer. Um sich gegenseitig unterstützen zu können, versuchten die meisten meiner jüdischen Freunde der Gefahr zu trotzen, indem sie beisammen blieben. Unsere Familie blieb hingegen ihrem Anti-Herdentrieb treu und kam zu dem Schluss, es sei das Beste, wenn wir uns aufteilten: Mein Bruder und ich auf uns allein gestellt und getrennt von den Eltern – die ebenfalls für sich blieben.

Werkzeugmacher in Périgueux – gerade noch davongekommen
    Zum Glück – wie es gelegentlich geschieht – tauchte wie aus dem Nichts ein »Engel« auf, und Vater konnte ihn um Hilfe bitten. Diesmal benötigten wir gefälschte Ausweise, um Tulle verlassen zu können. Sicherlich wurde dieser Vermittler von irgendeiner wohltätigen Institution ausgewählt und bezahlt. Doch Hilfe dieser Art hätte unmöglich für alle gewährt werden können, und

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