Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Vater wäre keinesfalls imstande gewesen, dafür zu bezahlen. Als Mittelsmann könnte der Rabbi von Brive-la-Gaillarde gedient haben, den Vater dazu gebracht hatte, seinem älteren Sohn zu helfen, dem er jede vorstellbare Begabung zuschrieb. Wenige Aspekte jener Zeit lösen bei mir Bedauern aus, aber ich habe den Namen der Wohltätigkeitsorganisation und auch den des Engels vergessen. Ich frage mich, wem er sonst noch geholfen hat.
Man wies Léon und mich an, zur Tarnung eine Werkzeugmacherlehre in Périgueux südwestlich von Tulle anzufangen. Die Werkstatt bestand aus einem großen ebenerdigen Raum mit vielen altmodischen Maschinen, ein paar Lehrmeistern und etwa einem Dutzend junger Praktikanten. Für die Nacht hatte man uns einen Raum in einer nahen Kaserne auf der anderen Seite der Bahngleise zugewiesen. Der gesunde Menschenverstand befahl uns, nicht mit den anderen Bewohnern zu sprechen, unter denen Kleinkriminelle und Informanten hätten sein könnten.
Fast wie beim Sport bestand der Löwenanteil der Ausbildung darin, einen einfachen, aber höchst undurchsichtigen Bewegungsablauf zu meistern. Man gab uns Metallfeilen, um aus zwei Stücken Eisenschrott aus einer großen Tonne eine »Schwalbenschwanzverbindung« aus Metall zu fertigen, deren zwei Teile reibungslos ineinanderzugleiten hatten, ohne dass Licht durchschien. Wenn ein Teil einer Lokomotive oder eines Waggons zerbrach, konnte kein Ersatzteil in einem Lager bestellt werden, sondern musste vor Ort von Hand hergestellt werden.
Als Vorbereitung für diese Art von Reparaturarbeiten gab man uns sehr grobe Feilen, und anfangs kam es einem unmöglich vor, damit eine perfekte Schwalbenschwanzverbindung zu feilen. Doch es war – nicht anders als die kursive Handschrift – »nur« eine Frage absolut präziser Muskelkontrolle, um die Feile vollkommen waagerecht vorwärts und rückwärts bewegen zu können. Da ich kräftig zupacken konnte und über eine hervorragende räumliche Vorstellung verfügte, kam ich sehr gut zurecht – weit besser als die meisten anderen Lehrlinge, die zudem dazu neigten, stark zu trinken. Ich erwarb eine Menge Selbstvertrauen, und als ich später Hausbesitzer wurde, war die Erfahrung als Werkzeugmacherlehrling in Kriegszeiten ein wahrer Segen.
Drei von uns – mein Bruder, ich und ein geheimnisvoller Bursche, der kam und ging – stachen auf gefährliche Weise heraus. Wir sahen absolut nicht wie Werkzeugmacherlehrlinge aus und redeten auch nicht so. Der Chef wusste jedoch, wer wir in Wahrheit waren, und war auf unserer Seite. Deshalb stellte sich für eine Weile Routine ein.
Auf meiner gefälschten Kennkarte war die korsische Stadt Bastia als Geburtsort angegeben. Die Alliierten waren bereits auf Korsika gelandet, sodass – wie ich hoffte – niemand es überprüfen und meine Identität infrage stellen konnte. Allerdings war jene Kennkarte nicht wirklich professionell gefälscht, weshalb ich den gewohnten Ablauf unterbrach und den Zug nach Limoges nahm. Dort hatte eine mir unbekannte Person angeboten, sie würde erklären, dass ich mit ihr zusammenlebte. Die Aufgabe, meinen Ausweis zu tauschen, nahm mehr als einen Tag in Anspruch, und weil der Bahnhof stets geöffnet und geheizt war, verbrachte ich die Nacht dort unter dem Vorwand, auf meinen Zug zu warten. Abgesehen von einigen Pennern war der Bahnhof leer. Einer setzte sich neben mich und bot mir einen Schluck aus einer verdreckten Flasche an. Als ich dankend ablehnte, beschwerte er sich: »T’es pas un pote« (Du bist kein Kumpel). Ich war starr vor Angst. Diente er sich vielleicht, um hier geduldet zu werden, bei der Polizei an, um zu berichten, was er sah? Mein Leben war voller Gefahren, die es erforderten, dass ich die Chancen und Risiken blitzartig abschätzen konnte. Das hieß: ständige Angst.
Am nächsten Tag suchte ich das zweite Polizeirevier auf, um meine »neue und verbesserte« Kennkarte abzuholen. Es gab keine Probleme, doch kurz darauf wurde jemand, dem ich von der Angelegenheit erzählte, sehr blass und sagte: »Du hast vielleicht Schwein gehabt. Der Leiter im ersten Revier ist der Sowieso, den man kürzlich von Tulle auf diesen Posten befördert hat.« Kein übler Kerl, aber hätte er mich festgenommen, wäre ich in sein Büro gegangen? Zum Glück hat ihm das Schicksal diese Entscheidung vorenthalten.
Eines Morgens im November 1943 betraten zwei Männer, die sich als Polizisten auswiesen, und dazu ein Informant der Polizei die triste Werkstatt. Wegen der
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