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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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großen Neuigkeiten der letzten Nacht war die ganze Stadt an diesem Morgen in Aufruhr: Auf die deutsche Kommandantur war ein Bombenanschlag verübt worden, und die Polizei war hinter dem oder den Tätern her. Die Besucher stürzten sich auf mich und befahlen mir Mantel und Mütze anzuziehen und meine – gefälschten – Ausweispapiere zu zeigen. Der Informant sagte: »Keine Frage, das ist euer Mann.« Dann ging er mit einem der Polizisten hinaus. Der andere blieb zurück und beruhigte alle, man solle sich keine Sorgen machen. Léon und ich glaubten, das sei unser letzter Tag in Freiheit – oder möglicherweise auch unseres Lebens.
    Mein Überzieher war auffällig. Das Vorkriegsstück, das Vater in einem Lagerhaus aufgestöbert hatte, besaß eindeutige Vorzüge – der Stoff war nicht so grob wie bei der in der Kriegszeit verfügbaren umgearbeiteten Ersatzware, und es war sehr warm. Man benötigte dafür jedoch keinen Bezugsschein, weil er nicht offiziell registriert war. Der Nachteil – und der Grund, weshalb er nicht verkauft worden war: Der Überzieher zeigte ein schrecklich auffallendes Schottenmuster.
    An diesem Abend, nachdem die Polizei uns aufgesucht hatte, überlegten wir, eng aneinandergekauert und ohne jemanden, den wir um Rat fragen konnten, was wir als Nächstes tun sollten. Der eigentliche Bombenleger musste einen Doppelgänger meines Mantels getragen haben. Das routinierte Spiel »guter Bulle/böser Bulle«, das man uns vorgeführt hatte, bedeutete gar nichts, all das ließ uns vielmehr Böses erwarten. Flucht kam nicht infrage, da wir davon ausgingen, dass die Polizisten und einige unbeschäftigte Nachbarn insgeheim ständig alles beobachteten. Auch lange Überlegungen führten zu keiner anderen Entscheidung, als auf eine Gelegenheit zu warten, uns ungesehen fortstehlen zu können. In der Zwischenzeit vermieden wir jede Erkundigung darüber, was eigentlich vorging. Wir beschlossen, uns so zu verhalten, als ginge uns das alles nichts an, und blieben voller Angst und mit zusammengebissenen Zähnen da.
    Schließlich erwischten wir irgendwie unseren »Engel«, und er arrangierte ein sichereres Umfeld im Lycée du Parc in Lyon.

Weihnachten in Saint-Junien
    Eine passende Tarnung ergab sich, als unser Ausbildungszentrum alle Lehrlinge für einen Weihnachtsurlaub nach Saint-Junien schaffte. In der armen Region des Limousin produzierte man eine Menge Lammleder, und seit dem Mittelalter hatte man sich dort der Handschuhmacherei verschworen. Die Arbeiter waren äußerst geschickt und spezialisiert, äußerst unabhängig und überaus gut organisiert – die früheren Zünfte hatten sich zu zielbewussten und mächtigen Gewerkschaften mit einer langen und ausgeprägten anarchistischen Tradition gewandelt.
    Die Straßenschilder sind alles, was mir von dort in Erinnerung geblieben ist. In dem von den Nazis besetzten Frankreich Ende 1943 konnte man Straßennamen finden wie Boulevard Karl Marx, Avenue Karl Liebknecht, Allée Rosa Luxemburg und ähnliche Würdigungen deutscher kommunistischer Helden. (Anarchisten hatten weder für Lenin noch für Stalin etwas übrig.) Als Reaktion auf meine dezent gezeigte Überraschung erklärte mir ein Einheimischer, man würde, wenn man den Besuch eines »Ortsfremden« (beispielsweise den von Vichy ernannten Präfekten) erwarte, die Schilder durch die politisch korrekten Bezeichnungen Boulevard Maréchal Pétain, Avenue de Verdun usw. ersetzen. Nach dem Alarm bringe man rasch die »richtigen« Schilder wieder an.
    Oradour-sur-Glane ist ein kleiner Ort, in dem die deutsche Waffen-SS 1944 ein grässliches Massaker begangen hat – sie trieb 642 Dorfbewohner in eine Kirche und steckte sie in Brand. Der Ort liegt in der Nähe von Saint-Junien. Vielleicht hat die SS-Division »Das Reich« das Dorf doch nicht zufällig gewählt, sondern auf die Zeichen einer stolzen lokalen Unabhängigkeit reagiert.

Im Lycée du Parc
    Ein beträchtlicher Teil der Welt war in Aufruhr, doch im Lycée du Parc in Lyon, wo Léon und ich von Januar bis Mai 1944 Internatsschüler waren, ging fast alles seinen gewohnten Gang. Ich war sehr erleichtert, fast beschämt. Das offizielle Schulgebäude war gerade in ein Militärhospital umgewandelt worden, und die Abteilung, in die ich kam, hatte man aus der Stadtmitte auf einen steilen Hügel namens La Croix Rousse verlegt, in eine alte und sehr stolze Gemeinde der Arbeiterklasse, die lange für ihre Seidenwebereien und ihre Vereine militanter Anarchisten berühmt

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