Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
nicht (zumindest galt das für mich), dass er zum Chef meiner Kompanie aufgebaut werden sollte. Während der Weihnachtspause nahm er dann einige von uns mit zur Festung Briançon an der italienischen Grenze in den Alpen. Ohne Lehrer mühten er und wir uns damit ab, das Skifahren zu erlernen – dazu rutschten wir eine Straße hinunter. Als ich ihn beinahe über den Haufen fuhr, schrie er mich an, was mir ziemlich peinlich war. Gleich nach unserer Rückkehr nach Paris wurde er zu meinem Hauptmann befördert, war sehr unsicher und erinnerte sich leider lebhaft an alles.
Partnersuche und das Haus der
Carva-
Absolventen
An US-Universitäten bietet die Koedukation eine exzellente Möglichkeit für die Wahl des Lebenspartners. Zu meiner Zeit gab es an der Carva nur Männer, was spezielle Arrangements notwendig machte, etwa die Tanzveranstaltungen mit Live-Orchester, die das GPX – die Pariser Gruppe der X – im Haus der Carva -Absolventen in der Faubourg Saint-Germain im siebten Arrondissement veranstaltete. In einem an der Straße gelegenen Gebäude befanden sich Unterkünfte für die Bediensteten; es gab einen gepflasterten Hof, dahinter einen Garten und zwischen Hof und Garten das Hauptgebäude.
Studenten zahlten keinen Eintritt, und die Ehemaligen spielten den diskreten Aufpasser für ihre heiratsfähigen Töchter. Hier fand so mancher meiner Studienkameraden eine Gattin und einen Schwiegervater, der scharf darauf war, sein Patron zu werden. Bei mir war es, einige Jahre nach dem Abschluss, reine Neugier, die mich zu einem Besuch veranlasste. Trotzdem hielten Aliette und ich dort unsere Hochzeitsfeier ab, und im Bedarfsfall nutzen wir dieses Haus immer noch als großartige Unterkunft, wenn wir weit von daheim entfernt sind.
Hauswirtschaftslehre
Hinsichtlich der Finanzen konnte man die regulären Studenten an der Carva (und der Normale ) mit zwei Worten angemessen charakterisieren: überaus privilegiert – oder weniger höflich: äußerst verwöhnt. Das erklärte unter anderem die Attraktivität der Schule. Zwar trifft es zu, dass die Studenten sich langfristig verpflichten mussten, eine Laufbahn in der Armee oder in einem Zweig der Verwaltung anzutreten – welcher das war, hing vollkommen von ihrem Abschlusszeugnis ab. Aber in Wahrheit konnte der Absolvent seine Freiheit erkaufen – entweder durch eine nachträgliche Ablöse der Unterrichtsgebühren oder durch anerkannt gute Taten. Während der Zeit an der Hochschule waren die Studenten mit französischer Staatsangehörigkeit jedoch – ob reich oder arm – von allen Kosten für Unterkunft, Verpflegung und von Unterrichtsgebühren befreit.
Als ausländischer Student erhielt ich einen Scheck für Studiengebühren, Unterkunft und Verpflegung. Aber das war eine buchhalterische Fiktion: Genau der Geldbetrag einer staatlichen Einrichtung, der sonst an die Normale gegangen wäre, wurde stattdessen von der Carva kassiert. Als ich dann 1947 französischer Staatsbürger wurde, verlor ich diese Unterstützung, und die Rechnung, die ich dafür erhielt, entsprach dem Rückkaufswert der Verpflichtung eines normalen Studenten. 1946 war er durch die Nachkriegsinflation praktisch auf null reduziert worden, weshalb Vater über seinen Schatten sprang und mir die Unabhängigkeit erkaufte – zu einem historisch niedrigen Sonderpreis.
Wie ist es meinen Klassenkameraden ergangen?
Zahlte sich der ganze Wettbewerb aus? Nicht wirklich – der Abschlussrang sagte sehr wenig über die künftige Leistung aus. Dennoch spielten viele meiner Klassenkameraden beim Wiederaufbau Frankreichs nach den Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rolle. Sie hatten wenig Konkurrenz, weil die Lebensläufe unserer unmittelbaren Vorgänger zumeist sehr starke Brüche aufwiesen, sie das Englische nicht ausreichend beherrschten oder mit anderen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Selbst ein niedriger Rang beim Abschluss garantierte noch ein angenehmes, wenn auch nicht immer ein mit Größe verbundenes Leben – mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen. Jean-Claude Simon (1923–2000), ein Zimmerkamerad, verschwendete keinen Gedanken an seinen Rangplatz in unserer Abschlussklasse – abgesehen davon, dass er versuchte, Letzter zu werden, ohne deswegen gleich durchzufallen. Er hatte einen Bankjob geerbt, den er unerträglich langweilig fand, und nutzte seinen Reichtum, um sich Freiheit zu kaufen. Fast von der Pike auf begann er eine zweite Karriere in der Elektronik und hatte Erfolg – zunächst in der Forschung,
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