Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
Politik, wo er mitten im Ersten Weltkriegs für kurze Zeit Premierminister Frankreichs war! Seine Amtszeit war weder lang noch erinnerungswürdig. Seit dem unvergleichlichen Lazare Carnot (1753–1823) fällt mir kein besseres Beispiel für einen Gelehrten-Krieger ein. Dessen Sohn Sadi Carnot (1796–1832) hat übrigens die Thermodynamik begründet.
Painlevé lehrte weiter, wann immer er konnte. Wenn er nicht konnte, wurde er von dem wenig bekannten Charles Platrier vertreten. Von Painlevé zu Platrier wurden die Vorlesung und die Skripte in vielen kleinen Schritten verändert. Nach Orville Wrights Unfall war Painlevé der erste Flugpassagier von Wilbur Wright – was ihn als sehr frühen Fan des Flugzeugs ausweist. Die Skripte der von Platrier für meine Klasse vorbereiteten Vorlesung enthielten viele Anhänge mit weiterführender Lektüre. Einer davon war lächerlich. Er enthielt Painlevés frühen (vor Wright verfassten) mathematischen Beweis, dass Flugzeuge – unter gewissen »natürlichen« mathematischen Voraussetzungen – unmöglich fliegen können! Dieser Beweis hätte es verdient, noch einmal veröffentlicht zu werden: als Warnung für Wissenschaftler, dass eine Theorie durch eine Annahme erledigt werden kann, die mathematisch möglicherweise »natürlich« aussieht, von der Natur aber leider nicht ausgewählt wurde.
Die Professoren Julia und Lévy
Unsere Professoren für reine Mathematik, Gaston Julia und Paul Lévy, unterschieden sich in vielfältigster Weise. Als ich bei ihnen studierte, respektierte die mathematische Welt von Paris keinen von beiden, und die beiden Männer und Szolem mochten einander nicht. Für mich spielte das keine Rolle, und sie alle beeinflussten mich in hohem Maß.
Als ich anfing, die Ausdrücke »Julia-Menge« und »Lévy-Prozess« zu benutzen, löste das verständnislose Blicke aus. Heute gehen Fraktalisten täglich damit um. Ich war auch der Erste, der stabile Lévy-Prozesse in der Wissenschaft verwendete und ihnen den Namen Lévy-Flüge gab. Obwohl einige Zyniker behaupten, meine Ideen seien von Julia oder Lévy, bin ich höchst erfreut, dass die von mir vorgeschlagene Terminologie Wurzeln geschlagen hat.
Wenn man sich eng an seine Lehrer bindet, ist damit zu rechnen, dass man in eingefahrene Gleise gerät und diese Gleise, falls die Lehrer nicht gerade in Mode sind, zwangsläufig in eine Sackgasse führen. Aber Julia und Lévy unterschieden sich zu sehr voneinander, als dass sie mich in eingefahrene Gleise manövriert hätten. Außerdem gibt es zu jeder allgemein gültigen Regel Ausnahmen, und in der Folge konnte ich beweisen, dass ein tief in klassischen Vorgaben der Vergangenheit verwurzelter Mensch sehr wohl zum erfolgreichen, aber Unruhe stiftenden Einzelgänger werden kann.
Jeden Herbst lehrte Julia an der Carva als Professor für Differential-Geometrie und jedes Frühjahr war er als ordentlicher Professor an der Sorbonne tätig. Die eine Vorlesung war für fortgeschrittene Anfänger gedacht, die andere für Fortgeschrittene. Doppelbeschäftigung war legal, praktisch und häufig.
1917 hatte Julia seine 199 Seiten starke Mémoire sur l’iteration des fonctions rationelles (etwa: Abhandlung über die Iteration rationaler Funktionen) veröffentlicht. Das Meisterwerk wurde mit dem Grand Prix der Académie des Sciences ausgezeichnet. Sein Thema – das auch eine parallele Untersuchung durch Pierre Fatou nach sich zog – war zeitweilig sehr in Mode. Doch die Arbeit steckte voller spezieller Beispiele und Resultate, die nur in engen Bereichen gültig waren. Bourbaki betrachtete das Werk als übermäßig konkret, und so sollte es für 30 Jahre missachtet und vergessen bleiben.
Für Szolem spricht, dass er die Julia-Fatou-Theorie immer lobte; er schlug vor, ich solle sie als Thema für meine Doktorarbeit wählen. Beinahe hätte ich es getan. Wer hätte sich vorstellen können, dass ich dieses Gebiet 30 Jahre später mit neuen Fragen beleben würde, die ihm Begeisterung und wohlverdientem Ruhm einbrachten?
Als Lévy auf die 60 zuging, sah man ihn immer noch als brillanten Spinner der höchsten Kategorie an, aber er »mauserte« sich bereits zu einem ganz Großen der Wahrscheinlichkeitstheorie, man könnte sogar sagen, zum größten Wahrscheinlichkeitstheoretiker aller Zeiten. Für manche war seine Art, Wahrscheinlichkeitstheorie zu betreiben, allerdings zu intuitiv, anderen kam sie zu seltsam vor. Folglich war er ein sehr ausgeprägter Einzelkämpfer, der es nie zum
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