Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
festgelegt hatte, für einen unbestimmten Zeitraum in den USA zu bleiben.
Ich erinnere mich an Mannys Worte bei dem Meeting der Belegschaft: »Reine wissenschaftliche Forschung ist ein sehr harter und in den meisten Fällen undankbarer Beruf – Sie haben nie genug Zeit, das zu tun, was Sie gern möchten – und an Samstagvormittagen gehen Sie ins Labor, statt mit den Kids Ball zu spielen.« In meinem Fall wurden diese Worte Wirklichkeit. Der hippokratische Eid besagt zunächst, der Arzt solle niemandem schaden. Ich glaube fest daran, dass er nicht nur für Mediziner, sondern für alle Wissenschaftler gelten sollte. Ein Vater mit einer selbst auferlegten und nie ganz erfüllten Mission ist kein Vollzeitvater und kann seine Familie zerstören. Weil Aliette die Verantwortung übernahm, glaube ich, dass ich den Eid einhalten konnte. Lassen wir es dabei bewenden.
Wir lassen uns in den USA nieder
Nachdem wir also beschlossen hatten, in den USA zu bleiben, war es an der Zeit, einen Platz zum Leben zu finden. Wir hatten unsere zweijährigen Flitterwochen im unvergleichlichen La Boverie bei Genf im Kopf, als Aliette und ich mit der Jagd nach einem Haus begannen. Fortuna half, und für vier Jahre wohnten wir an einem unheimlich ähnlichen Ort – über der Garage eines Anwesens, das David Swope gehörte. Dort wurde unser zweiter Sohn geboren.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Als wir einzogen, vermissten wir den weiten Blick nach Süden über die Rhone, der unsere erste Wohnung aufgewertet hatte. Doch wieder einmal war das Schicksal auf unserer Seite. Die Nacht vor dem Erntedankfest tobte ein schrecklicher Sturm, und am nächsten Morgen – sieh an! – lagen mächtige Bäume entwurzelt am Boden, und es hatte sich ein wundervoller Blick hinunter auf den Hudson River aufgetan. Wir konnten im Süden bis zur Tappan Zee Bridge sehen, und an klaren Tagen bis nach Manhattan! Aus dem Swope-Anwesen zogen wir aus, nachdem wir ein Haus in Chappaqua gekauft hatten, das wir wählten, weil es so nichtssagend wirkte – es hielt sein Versprechen –, und wohnten dort fünf Jahre. Es war ein perfektes Heim für unsere beiden kleinen Jungen. Auf dem Bild sitze ich in unserem Wohnzimmer in Chappaqua zwischen Didier und Laurent.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Für die folgenden 35 Jahre hatten wir dann ein Heim, das es mit La Boverie und dem Swope-Anwesen aufnehmen konnte: ein wundervoller altehrwürdiger Bau in Scarsdale, fünf Minuten von allen Einkaufsmöglichkeiten entfernt, aber so vollkommen von der Nachbarschaft isoliert, dass er an ein altmodisches japanisches Haus erinnerte – nur in weit größerem Maßstab. Hinter einer unscheinbaren Einfahrt machte die Straße plötzlich einen scharfen Knick in ein Grundstück – so abgeschieden, dass man sich wie im schützenden Mutterleib vorkam. Nahe am höchsten Punkt eines steinigen Geländes gelegen, das wahrscheinlich nie als lohnende Ackerfläche gesehen worden war, verlor es sich in einem Hain sehr alter Eichen. Die Eiche direkt beim Haus konnte durchaus auf die Zeit zurückblicken, als der erste Weiße diese Gestade erreicht hatte.
Weil der komplexe Zuschnitt des Hauses – den ich bezaubernd fand – alle »normalen« Bieter abschreckte, konnten wir es uns leisten. Es war zwischen 1840 und 1940 in Etappen erbaut worden, weshalb die Decken des Erdgeschosses unterschiedlich hoch waren; die erste Etage war voller gefährlicher Treppen. Als wir einzogen, war kein Fenster rechtwinklig, was wir herausfanden, wann immer Arbeiten zu erledigen waren. Kein Handwerker wagte es, für Änderungen einen Kostenvoranschlag zu erstellen. Doch der Zufall führte mich zu einem Seelenverwandten namens Robert Robillard, einem Lehrer, der mit jedem Werkzeug umgehen konnte – er war die Art Mann, die ich mir auf einem Pferdefuhrwerk bei der Eroberung Amerikas vorstelle. Er benötigte einen Nebenverdienst und suchte nach intellektuellen Herausforderungen – deshalb reparierten wir beide über viele Jahre hinweg alles, was bei der ehrwürdigen Behausung so anfiel.
Somit markiert dieser 20.Juni 1958 in meiner Erinnerung den Wendepunkt meines Lebens. Das Datum ist auf Tausenden von Formularen vermerkt und wird nicht vergessen werden. Nach der Fahrt von Warschau nach Paris im Jahr 1936 zeugte es vom zweiten großen Bruch in meinem Leben.
Im Gegensatz zum ersten Bruch ist dieser zweite insofern nie ganz vollzogen worden, als wir zu Hause bis heute Französisch sprechen. Abgesehen davon, wie hätte
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