Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
ich das Land je vergessen können, das mir half, den Krieg zu überleben, das mich aufnahm, mir seine Kultur anbot und mich zu einem freien Menschen machte? Ich habe es nie bedauert, in die USA gezogen zu sein. In Frankreich fühle ich mich inzwischen immer mehr als ein Besucher, der aus weiter Ferne und einer weit zurückliegenden Zeit kommt – was unvermeidlich scheint, weil die Zeit weitergeht und Freunde dahinscheiden.
Emanuel Piore
Manny, ein bemerkenswerter Mensch, wurde in Litauen geboren, kam in die USA und machte seinen Doktor, als gerade die Depression wütete. Irgendwie überlebte er die schlimme Zeit, und als der Krieg ausbrach und in Washington, D.C., plötzlich Wissenschaftler in großer Zahl benötigt wurden, ging er dorthin. Er wurde zu einer entscheidenden Persönlichkeit bei der Gründung der National Science Foundation (NSF), der National Institutes of Health (NIH) und des Office of Naval Research (ONR –Amt für Marineforschung) – im Rahmen einer Politik, welche die Wissenschaft weit über jene Themen hinaus unterstützen sollte, an denen die Navy direkt interessiert war. Kurz darauf wurde er als Forschungsleiter bei IBM eingestellt und war damit der zentrale Mann bei der Einrichtung des Thomas J. Watson Research Center.
Anders gesagt, dieser eine Mann war für mehrere entscheidend wichtige Einrichtungen der Wissenschaftsfinanzierung in den USA verantwortlich. Er war weder ein großer Wissenschaftler noch ein Neuerer der Technik, aber ein raffinierter Macher im besten Sinn des Wortes und mit einem Sinn für »Noblesse oblige« ausgestattet.
Das von ihm aufgebaute System war alles andere als vollkommen, hatte aber den außerordentlichen Vorteil, dass man bei jedem der Standbeine je eigene Einstufungskriterien verwendete. Und IBM Research wählte einen eigenen Weg.
Mittlerweile haben IBM und das ONR die reine Forschung aufgegeben. Der Löwenanteil von Mittelzuweisungen für die akademische Welt kommt von der NSF und dem NIH. Das Procedere, mit dem sie die Nutznießer ihrer Stipendien auswählen, wendet auf alle dieselben Kriterien an. Das erklärt vielleicht, warum die NSF mich immer abscheulich behandelt hat: Jedes von mir vorgeschlagene Forschungsthema wurde als unverständlich, langweilig oder schlimmer erachtet.
Ralph E. Gomory
1958 war das Forschungspersonal bei IBM größtenteils sehr jung. Kurz nach meiner leisen Ankunft kam ein Neuer hereingedonnert – Ralph E. Gomory, fünf Jahre jünger als ich. Für mich war er in jeder Hinsicht der wichtigste Mann bei IBM.
Seine Dissertation in Princeton hatte sich mit einem Untergebiet der reinen Mathematik befasst, das er sofort danach als zu reif aufgab. Dann löste er ein berühmtes Problem der angewandten Mathematik – er fand einen Algorithmus, der linearen Programmierungsproblemen statt Brüchen ganzzahlige Lösungen verschafft. Ganzzahlige Lösungen werden in vielen aktuellen Anwendungen benötigt, und mit der Lösung des Problems wurde Ralph sehr bekannt. IBM stellte ihn ein, und es gelangen ihm mehrere andere Durchbrüche.
Wir lernten uns kurz nach seiner Ankunft kennen, als mein Ältester einen von seiner Frau geleiteten Kindergarten besuchte. Wir wurden gute Freunde, und ich wechselte in seine Abteilung. Er wurde zum Leiter der mathematisch-wissenschaftlichen Abteilung und dann zum Forschungsleiter ernannt, bis er in die Firmenzentrale von IBM versetzt wurde. Nach seiner Pensionierung bei IBM ist Ralph bis vor Kurzem Präsident der Sloan Foundation gewesen.
Die Zeit, in der Ralph mein Vorgesetzter war, ist für mich möglicherweise die längste Beziehung als Untergebener bei IBM gewesen. Als sein Terminkalender immer anspruchsvoller wurde, trafen wir uns natürlich immer seltener. Doch es steht außer Frage, dass ich Ralph gleich nach der Glücksgöttin am meisten verdanke, nämlich dass ich zum Fellow bei IBM gemacht wurde und, was wichtiger ist, dass man mir die Freiheit ließ, entweder wieder zu gehen oder dort Wurzeln zu schlagen. Denn ohne das hätte das Glücksspiel, auf das ich mich eingelassen hatte, niemals Bestand gehabt oder die Früchte getragen, die sich daraus ergaben.
Goldene Zeitalter – mythische und reale
Das goldene Zeitalter von IBM in den Naturwissenschaften fiel zeitlich mit den 35 Jahren meiner eigenen goldenen Periode zusammen. Es begann ungefähr mit meiner Ankunft bei IBM und endete eines Tages, als die Hälfte der Mitarbeiter aufgefordert wurde, IBM zu verlassen, während man die andere Hälfte
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