Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
verkünden, Hursts Rätsel könne auf dem Weg gelöst werden, den er in seinem Aufsatz vorgeschlagen hatte. Ich wagte es, ihn darauf hinzuweisen, dass das Rätsel in seinen Augen nicht besonders viel hergab. Das räumte er mit einem Lächeln ein. Erst an dieser Stelle führte ich ihm meine Lösung und deren äußerst wichtige Konsequenzen vor – sowohl für die Theorie als auch für die Praxis. Er begriff sofort, worauf es ankam, und wurde ganz untypisch kleinlaut. Er akzeptierte mich nie, aber zumindest hing er mir nicht mehr wie ein Mühlstein am Hals.
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Ein sein Potenzial nicht nutzender, ruheloser Einzelgänger löst sich von oberflächlichen Wurzeln
(1957–1958)
Der Sommer 1957 sollte für das Ende der großen Tour stehen, die ich als meine Lehrjahre betrachtete. Meine Erfahrungen als Postdoc in Cambridge, Princeton und Genf waren für meine persönliche und wissenschaftliche Entwicklung entscheidend gewesen. Leider hatten meine diversen Unternehmungen bis zum Jahr 1957 nicht viel dazu beigetragen, meinen alternden, aber noch immer virulenten Kepler-Traum voranzubringen. Das akademische Jahr 1957/58 sollte der Beginn des »echten« Arbeitslebens als französischer Wissenschaftler in Lille und Paris werden.
Als ich im Herbst 1957 nach Paris zurückkehrte, dachte ich unvermeidlich wieder an den Herbst 1944 kurz nach der Befreiung von Paris. Damals war ich trotz meiner stark verkürzten Vorbereitung auf dem Weg gewesen, bei den harten Eingangsprüfungen der École Normale Supérieure und der École Polytechnique zu glänzen. Ich war der akademische Star des Jahres gewesen, und Onkel Szolem – der beeindruckt war – hatte sein Bestes getan, mich für die reine Mathematik anzuwerben.
Wunderbare Überraschungen!
Das akademische Jahr 1957/58 stand für eine Entwicklung, die ich völlig aufgegeben hatte. Ich hatte eine Anstellung als Dozent mit einer eisernen Professur in Lille ergattert und dazu eine hübsche Nische für »Schwarzarbeit« an der Carva sowie andere attraktive Aussichten in Paris. Als ich 1952 meinen Doktortitel erhalten hatte, gab es an französischen Universitäten kaum offene Stellen, und ich hatte es nicht in die engere Auswahl für eine akademische Nische geschafft. Doch 1956, als die Einstellungen rasch zunahmen, gab es plötzlich eine große Nachfrage nach Dozenten.
Der Bedarf war so dringend, dass mein nomineller Betreuer Georges Darmois sich wieder daran erinnerte, dass ich verfügbar war. Er rief mich in Genf an und bat mich, zurückzukommen und eine freie Stelle zu übernehmen. Ich hatte mich schon für ein weiteres Jahr verpflichtet, doch für 1957 willigte ich freudig ein, ein bald für eine Professur infrage kommender Assistenzprofessor für Mathematik zu werden. Ich entschied mich, wie schon erwähnt, für die Universität Lille – nur zwei Bahnstunden nördlich meiner Pariser Wohnung. Außerdem wurde ich zehn Jahre nach meinem Abschluss an der École Polytechnique eingeladen – praktisch sogar gebeten! –, wieder »nach Hause« zu kommen, als Assistenzprofessor für Mathematische Analysis ohne Lehrstuhl und mit kurzer Vertragslaufzeit.
So war ich – Ehemann von Aliette, Vater des kleinen, in Genf geborenen Laurent, und neuer Besitzer einer sehr schönen Wohnung in der Nähe des wunderbaren Parc Montsouris in Paris – nun auch ein Universitätsprofessor. Jede Stelle erforderte nur die halbe Zeit, und zwei Teilzeitgehälter vom französischen Staat zu beziehen war eine privilegierte, aber recht verbreitete Praxis. In Lille konnte ich meine Lehrtätigkeit weitgehend auf zwei aufeinanderfolgende Tage in der Wochenmitte legen, sodass ich nur eine Nacht im Hotel zubringen musste.
Lehrstuhl in Lille
Offiziell fühlte sich der Staat verpflichtet, jedem Beamten eine Wohnung zu stellen, aber mir bot man nichts weiter an als eine schäbige Arbeiterwohnung in einem abgelegenen Vorort von Lille. Ich warf einen Blick darauf und beschloss, mich selbst darum zu kümmern. Aliette und ich waren bereit, wieder in Paris zu leben – die üblichen Attraktionen wurden noch um zwei Großmütter ergänzt, die darauf warteten, sich um unseren kleinen Sohn zu kümmern. Deshalb wurde Lille zur wünschenswerten Provinzuniversität.
Wir wohnten südlich des Quartier Latin. Jeder denkbare Weg zum Gare du Nord durchquerte die alte Gegend Les Halles inmitten der Stadt, doch verglichen mit den heutigen Verhältnissen war der Verkehr in Paris ein süßer Traum, und für meinen zuverlässigen 2CV fand
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