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Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)

Titel: Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoît B. Mandelbrot
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sich immer ein freier Parkplatz – nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt.
    Anders gesagt: Ich gelangte in die Ränge der Teilzeit-Turboprofessoren mit wenigen Sozialkontakten in Lille. Die Einheimischen luden uns nie ein und kritisierten uns, weil wir nicht vor Ort wohnten und den Studenten weniger zur Verfügung standen. Eines meiner zwei Gehälter wurde dazu benutzt, das zinslose Darlehen für unsere Wohnung zu tilgen. Deshalb war meine finanzielle Lage in Frankreich über den hohen Grad an Sicherheit hinaus zufriedenstellend. Zudem stand Darmois kurz vor seiner Emeritierung. Die »Reise nach Jerusalem« würde eine Stelle als Assistenzprofessor in Paris freimachen. Es gab nur wenige Kandidaten, und meine Chancen, berufen und vom Pendlerdasein befreit zu werden, schienen – erstaunlicherweise – ausgezeichnet zu sein.
    Doch das war noch nicht alles! Ein völlig unerwarteter »Fluchtweg« eröffnete sich dank eines gefeierten Historikers – es war Fernand Braudel (1902–1985), vor allem bekannt wegen seines in deutscher Kriegsgefangenschaft aus dem Gedächtnis heraus verfassten, überragenden Meisterwerks La Méditerranée [4] . Seine Darstellung der Seeschlacht von Lepanto im Jahre 1571 hatte mich fasziniert. Spanien blieb Sieger und hinderte die Türken so daran, das ganze Mittelmeer – und noch mehr – zu übernehmen. Braudels Historikervereinigung »l’École des Annales« verfügte über beträchtlichen Einfluss in der akademischen Welt; zu diesem Zeitpunkt hatte man dort den Eindruck, der quantitativen Geschichtsschreibung gehöre die Zukunft. Sie hatten eine übertrieben begeisterte Meinung vom Zipf-Mandelbrot-Gesetz in der Linguistik und von meiner Wirkung bei dem Psychologen Jean Piaget in Genf. Deshalb luden sie mich ein, in Paris westlich des Jardin du Luxembourg eine ambitionierte Forschungsgruppe einzurichten.
    Leider fing ich mit dem Herbst 1957 als Assistenzprofessor an der Universität Lille an. Das mächtige Establishment der reinen Mathematik in Frankreich, das ich 1945 verachtet hatte, nahm wenig Notiz von mir. Eine Karriere als illusionsloser Staatsdiener, der seine eigenen Interessen verfolgt, wäre recht erfreulich gewesen. Doch Sicherheit war nicht mein Ziel, und so ließ mich schon der Gedanke daran erschauern.

Der Glanz verschwindet, und meine Pläne ändern sich
    Die wunderbare Überraschung des vergangenen Herbstes war rasch verblasst, und ich beendete das Jahr 1957/58 in sehr ungewisser Stimmung. Eine Universitätsstellung in Frankreich war nicht mit meinem immer noch brennenden wilden Ehrgeiz und meinen Träumen zur Deckung zu bringen.
    Doch für den erfahrenen Überlebenskünstler, der ich 1958 geworden war, sahen die Vorzeichen für eine intellektuell zufriedenstellende Karriere in den USA wie in Frankreich im Jahr 1958 gleichermaßen übel aus. Ganz zu schweigen davon, dass die Lehre – selbst in einer Universität – ein schwieriger Beruf ist, mit dem man besser weit früher anfangen sollte als ich. Dazu kam, dass im Mai ein schweres politisches Unwetter losbrach – es kam zu einem Armeeaufstand in Algerien und zur Rückkehr von Charles de Gaulle an die Macht. Niemand konnte voraussehen, dass er die Universitäten alimentieren und zugleich den selbstzerstörerischen Einrichtungen des Systems überlassen würde, das in Flammen aufging, als die Ereignisse vom Mai 1968 die Herrschaft de Gaulles erschütterten.
    Ich entkam mit minimalen inneren Qualen. Das Jahr schritt voran, und ein Sommerjob brachte mich zu IBM Research in den USA. Meine Midlife-Crisis veranlasste mich, eine eiserne französische Professur für eine ungewisse Position in den Vereinigten Staaten aufzugeben. Würde die Stelle von Dauer sein? Im Nachhinein gesehen war mein Timing in vielerlei Hinsicht perfekt, und meine Karriere gedieh über meine kühnsten Träume hinaus. Aber hatte ich nicht einen sehr riskanten Weg gewählt? Das hatte ich tatsächlich, denn ich hatte zugelassen, dass das Risiko ungeheuer stieg. Anstatt mich irgendeiner bestehenden Wissenschaftsgemeinde anzuschließen, ging ich meinen eigenen Weg und setzte ihn fort bis hin zu Bereichen, die keinem Gebiet oder Establishment angehörten.
    Ohne dass ich mir bewusst machte, was ich tat, traf ich am 20.Juli 1958 eine Entscheidung, die nie wieder rückgängig gemacht werden sollte. Ein Sommerjob in New York beendete meine Lehrzeit.

TEIL III
Der fruchtbare dritte Abschnitt meines Lebens
    Die folgenden Kapitel schildern Höhepunkte aus den 35

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