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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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vordersten Linie marschiert und haben gegraben und gegraben. Die Stellungen sind die ganze Zeit gewachsen, in die Tiefe und in die Breite, und der Anblick dieser vielen Kilometer von tiefen Schützengräben und immer dichteren Gürteln von Stacheldraht war weniger imposant als deprimierend. Er ist überzeugt, dass es nicht mehr möglich ist, eine Entscheidung mit Waffengewalt zu erzwingen – je mehr Zeit vergeht, desto starrer wird die Stellungsfront. Er hat auch gehört, dass es sich hier um einen Abschnitt handelt, wo deutsche und französische Soldaten eine Art stiller Übereinkunft getroffen haben, sich möglichst in Ruhe zu lassen. Gelegentlich kommt es zu heftigen Kämpfen, die indes ebenso schnell wieder verebben, alles nach einer Logik, die er beim besten Willen nicht erkennen kann.
    Abgesehen von den Nächten, in denen gegraben wurde, hat Kresten Andresen ein recht bequemes Leben gehabt. Unfälle oder gefährliche Situationen sind ihm erspart geblieben. Trotzdem hat er sich unwohl gefühlt und nach zu Hause gesehnt. Von den deutschen Kameraden hat er sich weitgehend zurückgezogen – er findet sie versoffen –, und auch vom täglichen Leben, das ihm monoton und trist erscheint. Manchmal spielen sie jemandem einen Streich, streuen ihm zum Beispiel Pfeffer in den «Schweinsrüssel» – Soldatenjargon für Gasmaske. Wann immer es möglich ist, besucht er andere Dänen, um sich mit ihnen zu unterhalten. Er hat Molière gelesen und sich mit einem der Trosspferde angefreundet. Als die Nachricht kam, dass Montenegro vor der österreichischungarischen Übermacht kapituliert, verbreitete sich die Hoffnung, dass dies nur der erste Schritt sei, dem andere folgen würden, und dass um Ostern oder etwas später Friede geschlossen werde. Und so weiter.
    Andresen schreibt in sein Tagebuch:
     
Die Offensive, die hier stattgefunden hat, ist ganz zum Stehen gekommen, und es ist völlig ruhig. Es ist lange her, dass ich Kanonen gehört habe. Ich glaube auch, dass der Krieg bis August zu Ende sein wird. Aber selbst dann kommt man ja nicht sofort nach Hause. Sicher wird ein furchtbares Durcheinander in der ganzen Alten Welt entstehen. Ich glaube, das Leben wird dann eine Weile stillstehen, um später neu aufzublühen.

84.
    Donnerstag, 2. März 1916
    Pál Kelemen betrachtet eine Frau auf dem Bahnhof von Bosna Brod
     
    Für das Fieber und die Müdigkeit, die ihn in letzter Zeit gequält haben, hat sich eine Erklärung gefunden: Malaria. Zwar nicht die schlimmste Variante, aber er braucht medizinische Behandlung. Er ist natürlich froh, dass das Bett, das auf ihn wartet, in einem ungarischen Krankenhaus steht. Im milden Frühlingsregen hat Kelemen Abschied von seinen Offizierskameraden und Soldaten genommen, einen bewegenden Abschied – sein Sergeant hat sogar geweint. Dann hat er das Lager auf dem sumpfigen Feld bei Cattaro verlassen und ist mit einem Transportschiff nach Fiume  13 gefahren.
    Mit abgeblendeten Lichtern ging es die Küste Dalmatiens entlang, durch die eiskalte Bora, vorbei an dem gefährlichsten Teil des Adriatischen Meeres – dieses Meer ist durch eine gigantische italienische Minensperre abgeschnitten, die bei Otranto verankert ist. Er selbst hat die spürbare Begeisterung der Besatzung nicht verstanden; er kann «nicht begreifen, dass es immer noch Leute gibt, deren Augen beim Gedanken an Gefahr aufleuchten, ja, dass es immer noch eine solch trotzige Energie» gibt. Während alle anderen draußen auf dem gefrorenen Deck standen und nervös nach italienischen Minen Ausschau hielten, saß Kelemen allein in der leeren Schiffsmesse und betrank sich mit Rotwein der Sorte Vöslauer Goldeck.
    Heute sitzt er in Bosna Brod und wartet auf einen Zug. Bosna Brod ist ein Eisenbahnknotenpunkt, es wimmelt von Soldaten.  14 Auf den Straßen rasen Lastwagen hin und her, und auf dem Bahnhof gibt es Lokomotiven und Waggons aller möglichen Typen und Jahrgänge. Überall stehen große Stapel Lebensmittelkonserven und Munition. Ältere, bärtige Landwehrsoldaten in schmutzigen Uniformen laden auf und ab. Im Bahnhofsrestaurant laufen Soldaten und Beamte umher. An einem Tisch sitzt eine junge Frau, die seine ganze Aufmerksamkeit fesselt:
     
Sie trägt ein einfaches, verschlissenes Kleid und eine Art Pelzboa um den Hals. Ich kann es nicht lassen, diese etwas spröde, müde Person zu betrachten, ihr Reisekissen, ihren Schal und die Handtasche, die Kisten, die auf den Stühlen stehen und den Mantel, der an einem Haken

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