Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
nur auf die Länge der Ohren, sondern gleichzeitig auf viele andere Eigenschaften, wie etwa die Farbe des Fells oder die Beschaffenheit der inneren Organe. Bei einer hohen Mutationsrate nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass eine dieser Eigenschaften in einer Weise verändert wird, die für den gesamten Organismus sehr nachteilig oder tödlich ist, selbst wenn gleichzeitig auch positive Veränderungen auftreten. Das bedeutet, dass eine zu hohe Mutationsrate nachteilig ist.
Man kann den Zusammenhang zwischen Mutationsrate und Evolutionsfortschritt mathematisch analysieren. Dies haben Ingo Rechenberg, Professor für Bionik und Evolutionstechnik der Technischen Universität Berlin, und seine Mitarbeiter schon in den siebziger Jahren getan. Sie ermittelten die in der rechts stehenden Abbildung gezeigte Kurve:
Wie man sieht, nimmt der Effekt der Mutationsrate zunächst allmählich, dann stärker zu, um schließlich bei Überschreiten einer kritischen Grenze jäh abzufallen. Es gibt also ein »Evolutionsfenster«, innerhalb dessen die Mutationsrate zu einem zügigen Voranschreiten der Entwicklung führt.
Der genaue Verlauf dieser Kurve hängt davon ab, wie groß der Veränderungsdruck der Umwelt ist: Je stabiler die Umwelt, desto geringer ist die optimale Mutationsrate. Rechenberg gibt als Faustregel die Vs-Regel an: In vielen Fällen ist die Mutationsrate optimal, wenn 20 Prozent der Nachkommen besser an die Umwelt angepasst sind als ihre Eltern, 80 Prozent jedoch schlechter.
Zusammenhang zwischen Mutationsrate und evolutionärem Fortschritt nach Rechenberg
Dies mag zunächst absurd klingen: Wieso sollte es für die Evolution einer Spezies gut sein, wenn die meisten Nachkommen weniger gut an die Umwelt angepasst sind als ihre Eltern? Der Grund liegt darin, dass es einen mathematischen Zusammenhang zwischen der Schrittweite der Mutation und dem Anteil »schlechter« Mutationen gibt. Man kann also die Schrittweite nur vergrößern, wenn man einen höheren Anteil nachteiliger Mutationen in Kauf nimmt. Umgekehrt führt mehr »Sicherheit« bei der Produktion von Nachkommen zu einer Verringerung der Schrittweite und damit der Evolutionsgeschwindigkeit.
Wenn hinter der Evolution der Gene und der Meme derselbe mathematische Zusammenhang steckt, dann müssen für beide auch dieselben Erfolgsfaktoren gelten. Die
Fruchtbarkeit eines Mems kann man offensichtlich mit dem oben beschriebenen »Aktivierungspotenzial« gleichsetzen. Je größer es ist, desto öfter wird das Mem kopiert. Was aber ist mit Langlebigkeit und Wiedergabetreue?
Wenn Sie jemals »Stille Post« gespielt haben, dann wissen Sie, dass menschliche Gehirne nicht besonders gut darin sind, Botschaften exakt wiederzugeben. Und mit der Langlebigkeit ist das auch so eine Sache: Wir sind nun mal ziemlich vergesslich und werden ständig abgelenkt. Es besteht also eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass aus dem zufällig auf einer Party aufgeschnappten Satz: »Harry Bela-fonte sprang von einer Brücke« so etwas wird wie: »Harry Belafonte hat sich umgebracht« oder: »Wusstest du schon, dass sich dieser Sänger, wie hieß der noch gleich ... der hat, glaub ich, dieses Lied gesungen, du weißt schon, mit dem Werkzeug, ach ja >If I had a hammer<, da da di da da und so weiter, na ja, jedenfalls hat der sich von einer Brücke gestürzt, genau vor einen LKW.« »Du meinst Trini Lopez?« »Ja, kann sein, weiß nicht so genau.«
Unter diesen Bedingungen sieht es eigentlich für die Evolution der Meme nicht besonders gut aus. Je komplexer ein Mem ist, desto höher ist bei mündlicher Wiedergabe seine Mutationsrate und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass wichtige Bestandteile des Mems verlorengehen. Menschliche Gehirne sind also keine besonders guten Memkopierer.
Doch die Mutationsrate unterliegt selbst der Evolution. In unseren Zellen gibt es beispielsweise sehr komplexe Prozesse, die Kopierfehler bei der Zellteilung vermeiden und dadurch die Mutationsrate reduzieren. Diese Mechanismen sind jedoch nicht perfekt, sonst würden sie die Mutationsrate auf null reduzieren. Gäbe es solche perfekten Kopiermechanismen (was allerdings auch aus physika-lischen Gründen unmöglich ist), würde die entsprechende Spezies sich nicht mehr verändern. Sie würde dann früher oder später durch eine andere Art verdrängt, die weniger perfekte Kopiermechanismen besitzt und sich deshalb durch Mutation und Selektion besser an die Umwelt anpassen konnte. In Jahrmilliarden haben sich so in
Weitere Kostenlose Bücher