Schokoherz
unbeschwert mit den anderen Müttern und Kindern tummelten. Heute jedoch drangen wir tief ins wahre Herz Brüssels vor, in sein aggressives, pulsierendes Handelszentrum, das für unsereins fast zu modern und männlich aussah, um darin herumzuspazieren. Die Gebäude zum Beispiel waren so viel imposanter. Keine schönen hohen Stadthäuser wie die, an denen ich jeden Tag vorbeimarschierte, und auch keine vorstädtischen Kleinode wie die frei stehende Villa, in der wir so komfortabel hausten. Hier in der EU-Zone gab es vom Boden bis zum Himmel nichts als Beton, dessen triste Farbpalette von hellem Stahlgrau bis zu schäbigem Dunkelgrau reichte. Wir sausten um das Berlaymont Gebäude herum, das sich wie ein Seestern im Zentrum des Europäischen Distrikts ausbreitete, und bewunderten die seltsamen Fensterläden entlang derFassade. Zusammen mit einem echten Eisberg im Keller bildeten sie das umweltfreundliche Heizungssystem des 550 Millionen Pfund teuren Gebäudes. Wir donnerten die Rue de la Loi hinunter, eine vierspurige Straße, die mich sehr an die Londoner M25 erinnerte, aber nichts mit meinem gewohnten, ruhigen Brüssel gemein hatte. Dann kurvten wir über die Ringstraße, bekannt als petite ceinture oder Kleiner Ring. Schließlich, als uns schon schwindelig war, wir jegliche Orientierung verloren hatten und nur noch nach Hause wollten, hielten wir mit quietschenden Reifen vor dem Restaurant, das Tom empfohlen hatte.
Die Inneneinrichtung passte perfekt zur Umgebung: so viel gebürsteter Stahl und kalter blauer Stein, wie die Designer nur hatten unterbringen können. Als Schmuck hingen riesige blau-schwarze Drucke von Rothko-Gemälden an den Wänden – der von mir am wenigsten geschätzte Künstler übrigens – und eine Wand entlang zog sich eine Reihe einzelner Callas, jede in ihrer eigenen reagenzglasähnlichen Vase, von hinten mit gespenstisch blauem Neonlicht beleuchtet. Die Tischdecken waren leichentuchweiß und die Stühle bösartig unbequem. Ingesarnt schien mir alles ein bisschen veraltet, wie etwas, das ich vor fünf Jahren in London gesehen hatte. In Gedanken verfluchte ich Tom. Ich hatte Lou und Pete mit dem heimeligen, unwiderstehlichen Charme des echten Brüssel überraschen wollen, nicht mit seinen Versuchen, Städten nachzueifern, die trendiger, aber ohne Herz waren. Dieses Lokal war in etwa so gemütlich wie die Leichenhalle von Gerichtsmedizinerin Dr. Samantha Ryan.
Nach kurzem Zögern dachte ich jedoch: Was soll's, daskriegen wir schon hin, und rauschte hinein. Sofort nahm ich einen Tisch mit erstklassigem Blick auf die Tür in Beschlag und beschäftigte die Kinder mit ein paar Brotstangen. Dann räumte ich automatisch den Großteil des schicken gebürsteten Edelstahlkrimskrams weg – denn meine Kinder beweisen nur allzu gerne, wie wirkungsvoll Fingertapser auf solchen Oberflächen sind. Ich sah den Abdruck von Ollis kleinen Patschehändchen auf der silbrigen Salzmühle bereits vor mir und, ups, Maddie hatte zwar die Butterschale verschont, dafür jedoch direkt in die Butter gegriffen. Die Brotstangen waren als Ablenkung ideal. Maddie lutschte an ihrer wie Winston Churchill an seiner Zigarre, während Oliver mit seiner den Raum unter Beschuss nahm. Er feuerte unsichtbare Kugeln auf die Kellner ab, die uns mit offenem Missfallen beäugten. Wir unterschieden uns vermutlich drastisch von ihren üblichen Mittagsgästen.
Zum Glück ging bald die Tür auf und gab den Blick auf Pete und Lou frei, die wie immer darum stritten, wer als Erster hindurchtreten sollte. Pete hielt die Tür mit einer Hand auf und bedeutete Lou voranzugehen. Lou weigerte sich und bestand in ihrem typischen wohlerzogenen Singsang darauf, die Tür selbst aufzustemmen, wobei sie ihre nackte Schulter als Rammbock benutzte. Ungeduldig stand ich auf und rief: »He, ihr zwei! Schluss jetzt und kommt endlich her.«
Sofort drehten sich beide Gesichter in unsere Richtung, und kurz darauf fand ich mich in einer doppelten Umarmung wieder. Es war so schön, die beiden wiederzusehen.
»Bella! Du hast ja total abgenommen!« Lou klang fastein bisschen vorwurfsvoll, und Pete nickte zustimmend, während er mich wohlwollend musterte.
»Ach, Quatsch. Diese Hose ist nur ein bisschen ausgeleiert, deshalb sitzt sie so locker«, erwiderte ich – doch jetzt, wo Lou es laut ausgesprochen hatte, wurde mir mit einem Schlag klar, dass sie recht hatte. Ich war tatsächlich jede Menge Speckröllchen losgeworden. Was für eine Ironie des Schicksals, dass
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