Schossgebete
Also musste ich in einem schmerzhaften Prozess in der Therapie lernen, dass ich ihn jetzt doch wieder so lassen muss, wie er ist.
Ab und zu grüßen wir jemanden, den wir kennen. Wir kennen viele Leute hier im Viertel. Für uns ist das sehr wichtig, sich gut mit den meisten zu verstehen, für unsere Kinder. Wenn die hier rumlaufen, kennt sie jeder und passt mit auf. Wie eine Tierherde, alle sollen mithelfen beim Kinderschützen. Wir gucken in unser Stammcafé an der Kirche, winken rein zum Wirt, der unser Freund ist, und gehen schweigend weiter. Wie sich das gehört für Langverheiratete. Alles schläft langsam bei uns ein. Warum soll es bei uns anders sein als bei allen anderen Paaren? Er stellt immer öfter fest, dass ich für seine Stimmfrequenz taub geworden bin. Er spricht mit mir, und ich reagiere nicht. Es ist nicht böse gemeint, ich höre es einfach nicht. Mein Hirn hat abgespeichert, dass alles, was andere sagen, interessanter sein muss, weil ich ja bei meinem Mann immer wieder nachfragen kann, wenn ich was nicht mitbekommen habe. Umgekehrt ist es genauso. Ich ertappe ihn sehr oft dabei, dass er überhaupt nicht zuhört. Diese unglaubliche Gespanntheit, was der andere wohl Wundervolles mitzuteilen hat, ist völlig weg, schon seit Jahren. Die Luft ist raus. Das macht mir Angst. Hilfe, ich will da raus, ich würde gerne unsere Liebe retten oder wenigstens mich aus diesem Leben!
Wir gehen bei Alberto auf unseren festen Platz, er ist zum Glück frei, zur Not haben wir aber natürlich einen Ausweichplatz.
Wir sitzen dort immer nebeneinander, am Fenster, und gucken die anderen an, die vorbeigehen. Wir reden nicht viel, wir haben uns alle Geschichten unseres Lebens schon erzählt. Ich bestelle, wie immer, Spaghetti mit wild durcheinandergewürfeltem Gemüse, viel Chili. Habe gerade einen neuen Gott für meinen Monotheismus entdeckt: Jonathan Safran Foer. Ich liebe ihn, und ich liebe sein Buch Tiere essen . Es spielt bei jeder Mahlzeit eine Riesenrolle. Mein Mann ist manchmal eifersüchtig auf Buchautoren. Es gibt ja sonst keinen Grund, eifersüchtig zu sein, bis jetzt. Ich lese nur Sachbücher. Und bin dann direkt einer der fanatischsten Anhänger des Autors. Ich wollte Vegetarierin werden, und deswegen habe ich Foers Tiere essen gelesen. Vielleicht ist mein Mann zu Recht eifersüchtig, wenn ich Wochen und Monate von niemand anderem spreche als von Jonathan Safran Foer. Das ist mein Gott, sein Buch meine Bibel. Monotheismus, sag ich doch. Mein Mann möchte gerne, dass er immer mein einziger Gott ist. Er meint dann grinsend zu mir: »Du sollst keine fremden Götter neben mir haben.« Wenn ich mich aber darauf konzentrieren kann, was Gutes zu machen, zum Beispiel Vegetarierin zu werden, dann geht es mir besser. Ich muss mich dann nicht so sehr mit meinem eigenen verwirrten Ich beschäftigen, sondern kann das mit meiner neuen Herausforderung tun. Das Foer-Anbeten.
Das Essen kommt schnell, es ist wenig los heute. Wir sind aber auch etwas spät dran fürs Mittagessen.
Mir ist es so wichtig, was andere über mich denken, dass ich mich leicht zur äußersten Härte, zu Verzicht auf fast alles zwingen kann, indem ich folgenden Trick anwende: Ich erzähle einfach jedem, dass ich jetzt Vegetarier bin, dann muss ich das in meinem Gefühl auch bis zum Lebensende bleiben, sonst verliere ich mein Gesicht. So treibe ich mich zu Höchstleistungen an. Bin dann aber auch so unsympathisch diszipliniert, dass ich die Entsagungssachen auch nicht esse, wenn ich alleine bin, wie ein trockener Alkoholiker. Ich denke dann, dass ich, wenn ich kurz schwach werden könnte, es später noch schwerer haben würde. Dann lass ich es lieber gleich ganz bleiben.
Nach dem Essen scherzen wir mit Albertos Familie rum, bezahlen den immer gleichen Preis für zweimal vegetarisches Gericht mit einer großen Flasche Mineralwasser.
Wir gehen den gleichen Weg wieder zurück in unsere Wohnung. Georg zieht erst mal seine Hose aus, als wir reinkommen, schlüpft in seine Cowboyunterhose und versucht, dem Chaos Herr zu werden, das meine Tochter und ich täglich in der Wohnung anrichten.
Ich schlage die Zeit tot, weil ich ohne Kind keine richtige Aufgabe spüre. Mit unserer scheiß Patchworkfamilie muss ich regelmäßig damit klarkommen, dass mein Kind bei seinem Vater ist. Gut für sie und ihn, schlecht für mich. Aber mal Ruhe. Die Kümmermaschine läuft im Leerlauf, die egoistische Frau, die ich vor meinem Kind war, kann sich voll gehen lassen.
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